Die Akte Hürtgenwald. Lutz Kreutzer

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Die Akte Hürtgenwald - Lutz Kreutzer

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auf.

      »Jetzt hat die Kollegin erst mal die alten Fälle reingepackt … äh … soweit ich weiß«, stammelte sie. »Aus den eingemeindeten Gebieten.«

      »Aha, eingemeindete Gebiete.« Straubinger sah sie erneut an. »Was ist das?«

      Mit beiden Händen rückte sie ihren Gürtel zurecht. »Na ja, all das, was in den Stadtteilen passiert ist, die damals noch eigenständige Gemeinden waren, Breinig, Venwegen oder Gressenich.«

      »Gemeinde Gressenich, aha. Hört sich geheimnisvoll an.«

      »Ist es auch irgendwie. Dörfer rund um Stolberg, die in den 70er-Jahren der Stadt zugeschlagen wurden. Damals hatte fast jedes Dorf eine eigene Polizeiwache. Mit einem Polizisten, den jeder kannte, und so.« Sie sah auf die Wanduhr. »Ich muss leider …«

      »Nur noch eine Frage. Müssen die Akten in dem Schrank auch neu sortiert werden?«

      »Nee, da ist ja in den letzten Jahren niemand rangegangen. Nicht so wichtig. Aber so genau weiß ich das nicht.« Sie lachte. »Will eigentlich keiner wissen.« Dann tippte sie auf ihre Armbanduhr, hob verlegen die Schultern, wandte sich zum Gehen und winkte zum Abschied. »Viel Spaß hier unten.«

      »Jaja, klar. War schön, Sie kennenzulernen. Und lassen Sie die Tür bitte offen.«

      »Gemeinde Gressenich«, murmelte Straubinger leise, als sie den Raum verließ. »Was für ein klingender Name.«

      Fünf Stunden lang hatte Straubinger Akten gesichtet, ihre Registriernummern herausgesucht und mit der Datei abgeglichen, die seine Vorgängerin so unfachmännisch angelegt hatte, dass er für jedes Stück beinahe eine halbe Stunde brauchte. Des Öfteren blätterte er in den Fällen und versuchte, sich nebenbei ein Bild über die Menschen dieser Stadt zu machen. Diebstahl, Kneipenschlägereien, Rauschgiftdelikte, Autoknacker, Sexualstraftaten, Neonazis, Brandstiftung, zwei Banküberfälle, schwere Körperverletzung. Eine Stadt wie viele andere. Eigentlich nichts Außergewöhnliches.

      Immer wieder fiel sein Blick auf diesen Metallschrank am Ende des Raums. In dem Schrank gab es für ihn eigentlich nichts zu tun, Altfälle, bei denen davon auszugehen war, das sie sauber geordnet und abgelegt waren. Doch allein die Tatsache, dass der Schrank dort hinten stand, abgesperrt und lange unberührt, reizte ihn so, dass er sich irgendwann erhob und im Gehen an dem Schlüsselbund, den die Kollegin ihm übergeben hatte, nach dem passenden Schlüssel suchte. Er fand ihn, testete ihn vorsichtig und öffnete den Schrank. Staub wirbelte auf, den er zur Seite wedelte. Im Innern roch es muffig. Stehordner, Hängeordner und stapelweise verschnürte Aktendeckel. Alle zugebunden, mit einer Archivnummer versehen und anscheinend in der richtigen Reihenfolge abgelegt. Die älteste Akte, die er fand, war aus dem Jahr 1968. Schlägerei in einer Gastwirtshaft in Mausbach, Gemeinde Gressenich.

      Hier schien nichts in Unordnung zu sein. Alles war sauber gekennzeichnet und sortiert. Als er gerade den Schrank schließen wollte, fiel ihm ganz unten am Boden, eingeklemmt zwischen Hängeordnern und Rückwand, etwas auf, was das ordentliche Gefüge zu stören schien. Ein verloren wirkender Aktendeckel, auf der Spitze stehend, irgendwie aus der Ordnung gefallen. Straubinger bückte sich, griff nach der ausgeblichenen grauen Pappe und zog sie vorsichtig heraus. Die Akte war sehr dünn. Merkwürdig, dachte Straubinger. Ein Aktenzeichen aus dem Jahr 1956. Ein Todesfall! Vorn auf dem Deckel stand mit Bleistift geschrieben: »Akte Hürtgenwald«.

      Seine Neugier war geweckt. Ohne den Schrank zu schließen, begab er sich zurück zu seinem Tisch. Er zog an dem Knoten des Stoffbands und öffnete den Aktendeckel. Die Akte enthielt wenige Schriftstücke und zwei Fotos. An einem am Rand des vergilbten Papiers war das Porträt eines Mannes festgesteckt, helles Haar, bereits deutlich ausgedünnt, Seitenscheitel. Straubinger erschrak. Dieses Gesicht, es erinnerte ihn an jemanden. Aber an wen?

      Auf der ersten Seite ein Name: »Heinrich III. Vandenberg, geboren am 13. Januar 1919 in Stolberg, gestorben am 21. Mai 1956, Gressenicher Wald, südlich ›Buche 19‹, Gemeinde Gressenich.«

      Gemeinde Gressenich. Schon wieder dieser Name. Straubinger gab das Aktenzeichen in den Computer ein. Nichts. Dann »Akte Hürtgenwald«, wieder nichts, anschließend suchte er nach Vandenberg. Auch nichts. Entweder war die Mappe nach einer amtlichen Aktenvernichtungsaktion im Schrank vergessen worden oder jemand hatte sie versteckt, um sie vor der Vernichtung zu bewahren.

      Er blätterte weiter. Die Buchstaben auf den dünnen Durchschlagpapieren waren kaum lesbar, die Typendurchschläge des Kohlepapiers hatten sich in dem Trägerpapier mit den Jahren ausgebreitet und waren verschwommen.

      Auf der zweiten Seite stand noch einmal der Name Heinrich Vandenberg, wohnhaft im Kupferhof Blumenthal in Stolberg. Tod bei Waldarbeiten zwischen »Buche 19« und »Pflanzgarten«, durch eine Landmine. Wurde 37 Jahre alt. Dann standen dort der Name des Försters und der Name des Polizisten, die den Toten im Wald gefunden hatten, und der Name eines Mannes, der den beiden den Fund am 22. Mai gemeldet hatte.

      Straubinger sah sich das Schwarz-Weiß-Foto des Mannes noch mal an. Ein gut geschnittenes Gesicht, dunkle Augen. Ein anmutiges, fast verstecktes Lächeln umspielte seine vollen Lippen, Falten entlang der Wangen, zweifellos ein Frauenschwarm seiner Zeit. Diese funkelnden, warmen Augen. Das Gesicht des Mannes strahlte neben der herben Männlichkeit auch etwas Gütiges aus. Vor mehr als 50 Jahren von einer Mine getötet. Ein weiteres Foto, das in einer flachen angeleimten Leinentasche am hinteren Deckel steckte, zeigte die Leiche, wie sie mit verdrehten Armen auf dem Waldboden lag, ein Bein komplett abgerissen, das andere Bein zerfetzt. Das abgerissene Bein hing hinter ihm in einem Baum. Sein Gesicht war deutlich zu erkennen. Er wollte das Foto gerade wieder zurückstecken, als ihm etwas auffiel. Im Vordergrund am unteren Bildrand erschien der Waldboden ungewöhnlich ebenmäßig. Straubinger öffnete mehrere Schubladen des Schreibtischcontainers und fand schließlich, wonach er suchte, eine große Lupe. Ein sehr schmaler Zipfel im Bildvordergrund hob sich ab vom umgebenden Waldboden. Allerdings war der Bildbereich äußerst unscharf, sodass man nicht erkennen konnte, was es war. Ein Stück Stoff vielleicht?

      Straubinger war wie elektrisiert. Dieser Mann, einerseits hart und andererseits sensibel, wie er auf dem Foto wirkte, hatte Holzarbeiten im Wald gemacht? Irgendwas sagte ihm, dass das nicht alles war.

      Er drehte das Foto um. Auf der Rückseite waren ein blauer Stempel, ein handgeschriebenes Datum und eine Unterschrift zu sehen. Der Stempel des Fotografen, die Stempeltusche mit den Jahren verlaufen. Karl Königforst, Mausbach, 22. Mai 1956. Das Foto war also einen Tag nach dem angegebenen Todesdatum des Heinrich Vandenberg entwickelt worden.

      Ein letztes Mal betrachtete Straubinger das Foto der Leiche des Mannes. Es blieb die Frage: Was war das dort im Vordergrund? Er bewegte den Kopf langsam vor, blinzelte und schien nochmals in das Foto einzudringen. Als er es in die Leinentasche zurückstecken wollte, fand er darin einen kleinen Zettel und las.

      »Na, HK Straubinger«, Straubinger erschrak, »haben Sie sich gut eingearbeitet?«

      »Danke, ja, danke.« Straubinger steckte den Zettel zurück und legte Akte und Lupe beiläufig zur Seite. »Ganz schöner Wust hier.«

      »Sie machen das schon.« Der EPHK Müller klang jovial wie ein liebevoller Patriarch. »Ab morgen bekommen Sie dann eine Assistenz.«

      »Oh, die kann ich brauchen.«

      »Warum steht die Tür offen?« Müllers Blick fiel auf den Stahlschrank am Ende des Raums.

      »Hab mal reingesehen. Ich muss ja wissen, was überall herumliegt.«

      »Da brauchen Sie nix zu machen. Altes Zeug aus den alten Gemeinden, braucht keiner mehr. Manche Akten aus den

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