Die Akte Hürtgenwald. Lutz Kreutzer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Akte Hürtgenwald - Lutz Kreutzer страница 5
»Ja, die Vicht ist ein Bach«, erklärte Müller. »Aber so heißt eben auch ’n Dorf.«
»Und da ist die letzte verbliebene Land-Polizeiwache?«
Müller nickte. »Nur eine einzige Wache mit zwei Kollegen für 17.000 Leute, die neun eingemeindeten Dörfer von Stolberg. Und den Schrank da, den können Sie wieder zumachen. Lassen Sie das Zeug außen vor.«
»Und wenn ein ungeklärter Fall wieder aufgerollt werden soll?«, fragte Straubinger. »Dann sollte man doch wissen, wo was zu finden ist.«
»Ungeklärter Fall? Fällt mir nichts ein.« Müllers Züge wurden nachdenklich, bevor er sich zum Gehen wandte.
»EPHK Müller?«
»Was denn, Kollege?«
»Ich hab eine Akte gefunden, ganz hinten, versteckt hinter den anderen Akten.« Er nahm das Schriftstück in die Hand und wedelte damit. »Ein Todesfall von 1956. Den würde ich mir gern mal näher ansehen. Die ›Akte Hürtgenwald‹.«
»1956?« Müller verzog das Gesicht und kratzte sein Kinn. »Ach das, ja. Der Fall Vandenberg, oder?«, fragte er und zeigte auf den Aktendeckel.
Straubinger nickte. »Ja, das ist der Fall.«
»Das war ich. Die hab ich dahinten hingesteckt. Die Akte hab ich vom ehemaligen Dorfpolizisten von Schevenhütte, Polizeiobermeister Matthes Wolfberg, ein guter Mann. Er hat den Fall damals intern ›Akte Hürtgenwald‹ genannt.« Müller deutete auf die Bleistiftschrift. »Er hat mich zur Polizei gebracht, alter Freund meines Vaters. Als er starb, ein paar Jahre nach seiner Pensionierung, hat seine Frau mir die Akte vertraulich übergeben. Sie erzählte mir, dass er sie stets gehütet hatte und davor bewahren wollte, vernichtet zu werden.«
»Und das hatte sicher einen Grund, nehme ich an.«
»Sie wissen ja, jeder Fall, der älter als die 70er-Jahre ist, ist eigentlich längst wegen der verstrichenen Aufbewahrungsfrist entsorgt worden.« Müller setzte sich auf die Kante von Straubingers Schreibtisch und nahm ihm die Akte kurz aus der Hand, schlug sie auf und betrachtete das Foto von Heinrich Vandenberg. »Wolfberg ist dieser Fall sehr nahegegangen, ich hab damals als Junge zugehört, als er das meinem Vater mal erzählt hat. Und mir ist seine Beschreibung nicht aus dem Kopf gegangen, wie er und der damalige Förster, der alte Enno ter Wey, den Toten gefunden haben.«
»Und ein Hepp Dorenbusch, der hat das ja gemeldet, steht hier drin.«
»Ja, genau«, bestätigte Müller. »Da war noch jemand dabei.«
»Hepp Dorenbusch, Besenbinder, Gressenich, wohnhaft Dorado.« Straubinger stutzte. »Was bedeutet Dorado?«
Müller zuckte die Achseln. »Nie gehört.«
»Aber warum hat er gerade diese Akte gehütet?«
»Wolfberg hat wohl irgendwie Zweifel an irgendwas gehabt.«
»Und, haben Sie dann weiter nachgeforscht?«
Offensichtlich war Müller Straubingers Frage unangenehm. »Na ja, Sie wissen, wie das ist. Das war unendlich lange her und ich hatte anderes zu tun, als ich den Laden hier übernommen habe. Aber die Akte hab ich ja wenigstens verwahrt.«
»Mir erscheint da Einiges merkwürdig. Nur zwei beschriebene Seiten. Keine weiteren Nachforschungen.«
»Es gab damals viele Minentote, bis lange Zeit nach dem Krieg. Das war also nichts Außergewöhnliches. Man hat das seinerzeit als ein naturgegebenes Schicksal betrachtet.«
»Trotzdem, irgendwas scheint mir nicht klar.«
»Und wenn schon«, sagte Müller abweisend. »Es ist nicht Ihre Aufgabe, HK Straubinger.«
»Ich würde mich gern drum kümmern. Mord verjährt nun mal nicht.«
»Es war kein Mord! Vandenberg ist auf eine Mine getreten, es war also kein Mord.«
»Vielleicht, vielleicht nicht. Kollege Wolfberg hatte daran anscheinend Zweifel.«
Müller wurde unruhig. »Wie kommen Sie drauf?«
»Darf ich?« Straubinger nahm die Akte wieder an sich, zog den Zettel heraus.
Müller beugte sich über und Straubinger las vor: »›Akte Hürtgenwald‹, darunter ein großes Fragezeichen, mit Bleistift geschrieben. Darunter die Frage: ›Wonach hat Vandenberg gesucht?‹ Und zum Abschluss die Initialen ›M.W.‹«
Müller richtete sich wieder auf. »Wo hat der Zettel gesteckt?«
»Hinten bei dem Foto, ein bisschen versteckt in der kleinen Leinentasche.«
Straubinger beobachtete, wie es in Müller arbeitete.
»Gut, HK Straubinger. Nehmen Sie sich der Sache an. Vielleicht bin ich das dem alten Wolfberg schuldig.« Müller schüttelte den Kopf und stöhnte. »Hab ich es doch gewusst! Warum musste der Herrgott mir einen Mordermittler schicken?« Flehend blickte Müller an die Decke und reckte die Hände in Verzweiflung wie einst Desdemona im Angesicht Othellos. Dann wurde sein Blick streng. »Aber bitte vergessen Sie nicht, wozu Sie eigentlich hier sind. Machen Sie das im Stillen und außerhalb der Dienstzeit. Wir werden sehen, was sich draus entwickelt. Einverstanden?«
»Akzeptiert, Sie sind der Chef.«
»Und übrigens: Sie sollten eine Kaffeemaschine hier unten haben. Da in dem Schrank, unten links, da müsste sie stehen. Die können Sie nehmen.« Müller stützte die Hände in die Hüften, nickte und verließ den Raum.
Straubinger ging zu dem offenen Aktenschrank und räumte unten links einen Karton zur Seite. Und da stand sie, eine »Wigomat 100«, völlig verstaubt. Straubinger lachte. So was gab es eigentlich nur noch im Design-Museum, Abteilung 50er-Jahre. Diese Kaffeemaschine war tatsächlich älter als er. Grinsend schüttelte er den Kopf und schloss die Schranktür.
Nach diesem denkwürdigen Tag in Stolberg fuhr Straubinger durch einen heftigen Regensturm auf die Autobahn und zurück nach Köln. Nach eineinhalb Stunden war er in seiner Wohnung.
Freitag, 12. Juni
Der Hürtgenwald
Das Gesicht des Mannes und das Foto seiner Leiche hatten ihn nicht losgelassen, er hatte schlecht geschlafen. Jetzt saß er frisch geduscht am Frühstückstisch und strich sich durch die Haare. Der Duft von frischem Kaffee half ihm, munter zu werden. Und schnell waren die Bilder von gestern wieder da. Von dem Mann, dem Toten im Gressenicher Wald.
Ein diffuses Gefühl der Unruhe kam in ihm auf. Der Mann und der Fall erinnerten ihn an ein Ereignis, das lange zurücklag. War es das Porträt? Oder war es das Foto im Wald, der Tote, wie er dort inmitten dieser einsamen Waldlichtung lag, kaputte Bäume ringsumher, sein Bein in einem der Äste hängend. Grausam.
Josef Straubinger war in den Wäldern des Chiemgaus aufgewachsen, sein Vater war Bauer gewesen und hatte zwei Hektar besessen. Jeden Sommer hatte es ihn mit den Nachbarn in die Forste gezogen, um für den Winter vorzusorgen, denn