Festbierleichen. Uwe Ittensohn
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Als er heute auf der Tageskarte »Linguine mit schwarzem Trüffel und Parmesan« entdeckt hatte, reservierte er kurzerhand für sich und Irina einen Tisch. Sie war nicht mehr nur seine Mieterin. Seit er sich vor fünf Jahren hatte breitschlagen lassen, einer Abiturientin aus Speyers Partnerstadt Kursk für ein sechswöchiges Auslandspraktikum eine Bleibe in seinem Haus zur Verfügung zu stellen, hatte sich einiges getan. Als sie ein Jahr später vor seiner Tür stand und ihn bat, ihm doch ein Zimmer zu vermieten, da sie kurzfristig ein Auslandsstipendium an der Uni Mannheim erhalten hatte, stimmte er widerwillig zu, dass sie bei ihm einzog. Für ihn, den Eremiten, war es schier undenkbar gewesen, sein Haus mit einem fremden Menschen zu teilen. Nun lebten sie schon vier Jahre unter einem Dach. Aus dem Mietverhältnis für ein Zimmer mit Bad war mittlerweile so etwas wie eine Wohngemeinschaft geworden. Und aus der Mieterin so etwas wie eine Adoptivtochter.
Inzwischen war es für beide ganz normal, zusammen Konzerte oder Lesungen zu besuchen, gemeinsam zu verreisen oder, wie heute, miteinander zu schlemmen.
Doch Irina, die heute Morgen noch so begeistert auf seine Einladung reagiert hatte, hatte ihn versetzt. Weder seine Textnachrichten noch seine Anrufe nahm sie entgegen. Nach einer halben Stunde hatte er es schließlich aufgegeben und sich damit abgefunden, heute alleine speisen zu müssen.
Gerade brachte ihm Camilla, die Miteigentümerin des Mediterraneo, einen Teller dampfende, in Butter geschwenkte und mit Parmesan bestreute Linguine und stellte ihn vor ihm ab. Mit einem rasiermesserscharfen Edelstahlhobel löste sie hauchdünne Späne des schwarzen Trüffels, den sie vorsichtig über die Klinge zog.
André wedelte mit der Hand den Duft des frisch gehobelten Trüffels, der sich verführerisch mit dem feinen Butteraroma vermischte, an seine Nase. Camilla, die ihn dabei beobachtete, schmunzelte nur stumm, als sie sein verzücktes Lächeln sah. So war er eben: ein Genießer durch und durch, der es liebte, wenn man für ihn einfache Gerichte aus feinsten Zutaten zauberte. Er nippte noch einmal an seinem Ca dei Frati, einem Rosé vom Südufer des Gardasees, dann bohrte er die Gabel mit einer Drehung in die Pasta.
Just als er sie zum Mund führte, meldete sich sein Smartphone. Verdammt! Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, das Gespräch wegzudrücken, doch dann siegte sein Verantwortungsgefühl. Was, wenn ihn Irina erreichen wollte, weil sie mit einer Autopanne am Straßenrand stand?
Am anderen Ende der Leitung meldete sich Kriminalhauptkommissar Frank Achill, mit dem ihn seit einigen Jahren eine enge Freundschaft verband.
»Ich hoffe, ich störe dich nicht, André.«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete er mit einem sehnsüchtigen Blick auf die dampfende Trüffelpasta vor sich.
»Könntest du Irina bei mir im Präsidium in Ludwigshafen abholen? Ich will nicht, dass sie in ihrem Zustand noch Auto fährt.«
André spürte, wie ihm ein dumpfer Schlag durch die Eingeweide fuhr. »Zustand?«, stammelte er.
»Keine Sorge, ihr ist nichts passiert. Sie musste nur etwas mitansehen, was ihr auf den Magen geschlagen ist.«
Achill hatte noch nicht ausgesprochen, da stand André auch schon. Wie in Trance zog er zwei Banknoten aus dem Portemonnaie und ließ sie neben seinem Pastateller auf den Tisch segeln. Unter Camillas völlig verdutztem Blick verließ er grußlos das Restaurant.
Krisensitzung
Samstag, 8. Juni 2019, 8.30 Uhr
Das Sitzungszimmer der Brauerei Hirschbräu war ein lang gezogener düsterer Raum. Die mit dunklem Holz getäfelten Wände schluckten einen großen Teil des spärlichen Lichts, das sich neben der an der Schmalseite heruntergelassenen Leinwand hindurchschlängelte. Die zu einer langen Tafel zusammengeschobenen wuchtigen Holztische, deren tiefbraunes Nussbaumfurnier schon an vielen Stellen abgeplatzt war, verliehen dem Raum eine triste, angestaubte Atmosphäre. Um sie herum standen hochlehnige, mit beigebraunem, brüchigem Leder bezogene Stühle, die vom einstigen Wohlstand der Brauerei zeugten.
Auf dem vorderen rechten Stuhl im Dirndl saß Hildegard Braunleitner mit verkniffenem Gesicht. Sie war, wie die meisten im Besprechungszimmer, Mitinhaberin der Hirschbräu OHG und zuständig für die Buchhaltung und das Personalwesen. Zu ihrer Linken saß in Cordhose und ärmelloser Strickweste Georg Gruber, Braumeister und Urgestein der Brauerei. Auch seine Miene spiegelte Ablehnung wider. Allein schon die Tatsache, dass er hier still sitzen musste, während im Nebenraum gerade der neue Sud angesetzt wurde, machte ihn unruhig. Ihnen gegenüber saß eine etwa 30-jährige Frau. Sie war strohblond, trug ein schwarzes Kostüm, hochhackige Schuhe und eine rote Designerbrille. Sie hieß Grit Vermeulen, war die neueste Akquisition des Geschäftsführers, hatte in Rotterdam in Marketing-Management promoviert und anschließend bei einem multinationalen niederländischen Bierkonzern im Social-Media-Management gearbeitet. Sie folgte gebannt den Ausführungen und starrte im Drei-Minuten-Takt auf das Display des vor ihr liegenden iPads.
Neben ihr, nicht weniger eloquent wirkend, saß Angelo Sassari, Vertriebsleiter und frischgebackener Chef des Einkaufs in hautengem Hemd und einem sportlich grob karierten Anzug, der zwei Nummern zu klein wirkte.
Mit drei leeren Stühlen dazwischen bewusst abseits saßen ein alter Mann im Trachtenanzug und ein 25-Jähriger in feschen Lederhosen und sportlichem Hemd.
Bei den beiden handelte es sich um den 82-jährigen Ferdinand Braunleitner, den seit acht Jahren zurückgetretenen Seniorchef des Familienbetriebs, und seinen unehelichen Enkel Quirin Braxmeier, Sohn seiner verstorbenen Tochter. Der alte Braunleitner wusste, dass er schon lange nicht mehr erwünscht war, dass man jeden Redebeitrag von ihm jäh abwürgte und er trotz seiner 24-prozentigen Beteiligung faktisch nichts mehr zu sagen hatte.
Ähnlich erging es Quirin. Man hatte ihm, dem Bankert, wie er von seiner Tante Hildegard häufig hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, nur gnadenhalber eine Brauerlehre ermöglicht und ihn danach übernommen. Ansonsten leugnete man im täglichen Umgang mit ihm hartnäckig jegliches verwandtschaftliche Verhältnis zum Hause Braunleitner. Und dies, obwohl es jeder hier im Raum und natürlich auch die meisten alteingesessenen Einwohner der 12.000 Seelen zählenden, in der oberbayerischen Region Pfaffenwinkel gelegenen, Gemeinde Neuploching wusste. Heute war er nur hier, weil sein Großvater, der Einzige in der Familie, der zu ihm hielt, darauf bestanden hatte.
Obwohl sie unterschiedlicher kaum sein konnten, hatten sie eines gemeinsam. Alle starrten wie gebannt auf die bunten Charts und Schaubilder, die ihnen Joachim, genannt Jonny, Geschäftsführer und einziger Sohn des alten Braunleitner – wie immer höchst eloquent – auf die Leinwand beamte.
»Also, ich fasse zusammen: Unser heimischer Absatz schmilzt dahin wie die Polkappen. Im letzten Jahr haben wir wieder 50.000 Hektoliter weniger in der Region verkauft. Im Exportgeschäft besteht das Risiko, dass wir aufgrund fehlender Abfüllkapazitäten für die in Russland üblichen 0,95-Liter-Dosen den Folgevertrag mit der russischen Inter Pivo LLC verlieren werden. Durch Preissteigerungen im Einkauf und Tariferhöhungen steigen unsere Kosten ungebremst weiter, und unsere Produktionsanlagen sind veraltet!«
Jonny Braunleitner, der das Ganze in einer Art und Weise präsentiert hatte, als sei es eine Erfolgsbotschaft, machte eine bedeutungsvolle Pause, grinste süffisant und schaute in die Runde.
Dem alten Braunleitner