Der Verdrüssliche. Eva Holzmair

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Der Verdrüssliche - Eva Holzmair

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      - Abmarsch, mein Großer.

      - Ich hab noch nicht Zähne geputzt.

      - Dann aber flott.

      Gitta geht voraus in Bernhards Zimmer. Draußen ist es noch hell. Sie zieht die Vorhänge zu und schaltet die kleine Lampe am Kopfende des Betts ein. Das hat auch Paul immer erlaubt. Das Licht. Einen unaufgeräumten Schreibtisch hätte er allerdings nicht gutgeheißen. Schon kommt Bernhard angerannt und springt ins Bett, dass die Matratze wackelt. Der Schreibtisch! Ach was! Gitta deckt den Buben zu. Wichtig ist, dass er jetzt schläft, was er binnen kurzer Zeit tut. Nicht einmal Wächter für die Nacht hat er aufgestellt. Was Frischluft alles ausmacht. Gitta betrachtet sein Gesicht. Der Spruch, dass Kinder im Schlaf wie Engel aussehen, fällt ihr ein. Wie Putti vielleicht. Nein, auch das nicht! Putti sind Schablonen, Bernhard ist Bernhard. Einzigartig. Und nun so gelöst. Das muss sie festhalten. Gitta holt ihren Skizzenblock, setzt sich ans Bett und zeichnet das schlafende Kind im Dämmerlicht der abgeschirmten Lampe. Das Fantasiebild am Nachmittag ist ihr so leichtgefallen, den echten Bernhard zu erfassen, will hingegen nicht gelingen. Auf einmal merkt sie, dass der Bub gar keine Stupsnase hat. Wann ist denn die verschwunden? Sein Nasenrücken ist vielmehr breit, flach und hat weniger Sommersprossen als im Tagtraum. Die Augenbrauen schauen dunkler aus. Oder macht das die schwache Glühbirne? Vorsichtig beugt sich Gitta über das Kind, studiert die entspannten Züge. Ja, im Ausdruck, in den Proportionen hat sie Bernhard an der Staffelei richtig und trotzdem bloß als Erinnerung wiedergegeben. So sah er einmal aus. Versagt sie beim Skizzieren, weil die Vorstellung, die sie von ihm hat, das überlagert, was vor ihr ist? Oder liegt es an den geschlossenen Augen? Auf der Leinwand sind sie offen, der Blick versonnen. Nun sind sie unter den Lidern versteckt. Vielleicht träumt er gerade etwas Schönes. Wie soll sie das Wesentliche erfassen, wenn so vieles verborgen bleibt? Gitta blättert das Ergebnis ihrer Bemühungen durch, bessert aus, beginnt von Neuem. Schauen, genau hinschauen, und dann zeichnen. In der Realität bleiben, keinen imaginierten Bildern nachhängen.

      Es ist nach Mitternacht, als sie den Skizzenblock aus der Hand legt.

      XIII.

      Eine verwirrende Geschichte! Egal, welche Dokumente sie aus dem Netz holt, die Provenienzangaben zum Verdrüsslichen lauten, dass er unmittelbar nach dem Tod Messerschmidts an dessen Bruder, Johann Adam Messerschmidt, ging und später, vor 1793, von Franz Friedrich Strunz erworben wurde. Mit Strunz verliert sich seine Spur. Er taucht erst wieder um 1900 auf, wo er angeblich in den Besitz des Wiener Architekten Camillo Sitte gelangte, danach im Kunsthandel war, in den 1920er-Jahren von den Hausladens gekauft wurde und aus deren Familienstiftung 2008 ans Getty Museum ging, doch weder der Erwerb durch Sitte noch jener durch die Vorgängergeneration der Hausladens stimmt. So viel steht fest. Zudem weiß Carola aus der Literatur, dass auch noch nach Strunz weitere Besitzer bekannt sind, denn sie alle, Strunz eingeschlossen, wollten nicht einzelne Charakterköpfe verkaufen, vielmehr versuchten sie, die gesamte Serie zu veräußern, doch ihre Rechnung ging nicht auf. Das große Geschäft blieb aus. So wurden der Verdrüssliche und seine Gefährten bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder zusammen ausgestellt, Museen und Hofsammlungen angeboten und erst danach einzeln verkauft. Nur mehr ein Teil der Serie ging an Josef Carl Ritter von Klinkosch. Es gibt keinen Beleg, dass der Verdrüssliche bei der Auktion seines Nachlasses gesichtet wurde. Demnach klafft eine Riesenlücke zwischen dem wahrscheinlich letzten Eigentümer der gesamten Serie, Joseph Juttner, und Wilfried Hausladen.

      Die jüngsten Veröffentlichungen zu Messerschmidt und seinem Oeuvre sind ordentlich recherchiert. Darin gibt es keine neuen Erkenntnisse. Carola müsste schon auf alte Innenansichten oder vergilbte Fotos stoßen, auf denen der Verdrüssliche zufällig abgebildet ist, nicht als Hauptmotiv, schon eher irgendwo im Hintergrund. Oder er wurde in alten Versteigerungskatalogen als eine Steinbüste ohne nähere Beschreibung angepriesen. Wahrscheinlich haben schon Legionen von Kunsthistorikern solche Auktionseinträge übersehen, weil ein Bezug zum Gesuchten nicht hergestellt werden konnte, und sie wird ihn auch nicht herstellen können. Nein, sie muss es anders angehen, ihre Suche von hinten aufrollen und sich wie ihr Lungenwurm weiter bis zum Ende durchbohren.

      Carola schiebt Jarolims Hintern von der Tastatur, um wie anno dazumal einen Akt anzulegen, der mit verdammt wenigen Fakten versehen sein wird. Nicht einmal das Entstehungsjahr ist bekannt. Irgendwann in den 1770er-Jahren hat Messerschmidt mit der Arbeit an den Charakterköpfen begonnen und wahrscheinlich bis zu seinem Tod nicht damit aufgehört. Gesichert ist einzig, dass die ersten Skulpturen dieser Art nicht aus Alabaster waren. ›Sechs Metallene Köpf-Stückhe‹ wollte Messerschmidt 1776 dem kurbayerischen Hof in München vorlegen, um Aufträge zu erhalten. Carola schaut in ihre Unterlagen. Der Brief. Genau. Datiert mit 26. Februar 1776. An den Grafen von Berchem. Darin berichtet Messerschmidt selbst davon. Der Verdrüssliche muss demnach später entstanden sein. 1777–1783 trägt Carola als Entstehungszeit in ihren elektronischen Akt ein. Darunter Johann Adam Messerschmidt, Bildhauer, 1784. Wann Johann Adams Tochter die Köpfe übernommen hat, kann sie trotz längeren Suchens nirgends entdecken. Sie ist sich aber sicher, dass sie darüber schon einmal etwas gelesen hat. Nicht so wichtig. Sie fährt mit Franz Friedrich Strunz, Traiteur, circa 1792 fort. Danach kommen Katharina Mayer, Strunz’ Lebensgefährtin, circa 1805, Franz Jacob Steger, Bronzefabrikant und Gastwirt, circa 1808, und Joseph Juttner, Eigentümer eines Anfrage- und Auskunft-Comptoirs, circa 1835, sowie Wilfried Hausladen, Antiquitätenhändler, 1960.

      August 1960. Der Kaufbeleg. Mit ihm muss sie beginnen. Der Name der Verkäuferin. Wie hieß sie doch? Es war eine Frau. Ganz bestimmt. Irgendetwas mit G. Gerda, Gertrud, Grete, Gitta, Gudrun, und ein Familienname, der negative Assoziationen in Carola wachrief. Daran kann sie sich erinnern. Es hatte mit ihrer Schulzeit zu tun. Eine blöde Lehrerin, lästige Mitschülerin? Wenn die unangenehmen Gefühle von der Volksschule herrührten, dann hat sie schlechte Karten. Nicht einmal beim Anblick von Klassenfotos würden ihr alle Namen aus dieser Zeit einfallen. Abrupt steht sie auf, während Jarolim die Tastatur belegt und Carolas zuletzt gesetztes Fragezeichen durch wa2sers3eftgrftgv ergänzt und mit gggggggttt abschließt.

      Carola reißt Schubladen und Kastentüren auf. Da Aufnahmen von Bürofeiern und Betriebsausflügen, dort das Hochzeitsbild der Eltern und einige Familienschnappschüsse. Das dickliche Kind mit den trotzig vorgeschobenen Lippen, das ist sie. Verbindet sie noch etwas mit diesem Mädchen? An viel kann sie sich nicht erinnern, bloß an ein ständiges Gefühl der Unzulänglichkeit. Nicht hübsch genug, nicht geschickt genug, nicht gescheit genug zu sein, keine Außenseiterin, aber nahe dran an den Schulbänken, in denen sich die Unbeliebten zusammengefunden hatten, weil niemand sonst bei ihnen sitzen wollte. Wo waren sie, die Fotos aus der Gymnasialzeit? Aufnahmen von Denkmälern und Kunstschätzen wären kein Problem. Angefangen von den Fotos, die sie als Studentin im grauen Wien der frühen 1960er-Jahre gemacht hatte, über die zahlreichen Aufnahmen von Barockgärten bis zu ihren letzten auf dem Tablet festgehaltenen Eindrücken von den Schlössern Hof und Niederweiden könnte sie alles im Schlaf finden. Sogar von ihren amtlichen Entscheidungen hat sie stichwortartige Notizen und Ablichtungen. Darin ist alles dokumentiert: die politischen Interventionen, die klaren und die strittigen Fälle sowie all jene, die Wilfried betrafen. Aber Klassenfotos? Rund zwei Dutzend Mädchen, unter denen eine stets abweisend in die Kamera blickte, so als wollte sie den Fotografen dafür bestrafen, dass er seine Arbeit tat.

      Lächeln oder gar herzhaftes Lachen waren auch später keine Selbstverständlichkeit. Sie nehmen alles viel zu schwer. Und eine Hand auf Carolas Schulter. Wilfrieds Hand. Die erste Begegnung anlässlich ihres Vortrags im letzten Studienabschnitt. Vor vielen Menschen. Auch Institutsfremde waren gekommen, weil Carola in Ostdeutschland gewesen war. Das interessierte. Die Berliner Mauer war erst im Vorjahr errichtet worden. Diese Barbaren hatten das Stadtschloss gesprengt. Wie gingen sie sonst mit den übernommenen Kulturgütern um? Carola war hier, um zu berichten, aufgeregt, obwohl sie doch alles perfekt vorbereitet hatte. Auch die Aufnahmen von den noch erhaltenen Irrgärten in Altjeßnitz und Mosigkau. Und dann klemmte das ohnedies nur jeweils zwei Dias fassende Magazin des Projektors! Ungeduldig riss Carola daran, als jemand aus dem Publikum

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