Der Verdrüssliche. Eva Holzmair
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Читать онлайн книгу Der Verdrüssliche - Eva Holzmair страница 22
- Ja. Woher kennen Sie meinen Vater?
- Bitte siez mich nicht, wir sind doch seit eurem Klassentreffen 1987 alle per Du. Bei deinem Werdegang, liebe Hofrätin, bist du zudem mehr als bloß auf Augenhöhe mit mir.
Carola will nicht schon wieder vor Erstaunen verstummen oder darauf hinweisen, dass sie 1987 nicht dabei war, deshalb hakt sie rasch nach:
- Woher wissen Sie, pardon, woher weißt du das alles?
Ein schallendes Gelächter ist die Antwort, das nur gegen Ende bricht und die uralte Frau verrät, die es angestimmt hat.
- Ach Kinderl …
Von wegen Augenhöhe!
- … wenn du so wie ich jahrein, jahraus die Gesichter vor dir gehabt, im Klassenbuch Eintragungen gemacht, Hausübungen und Schularbeiten korrigiert und zahllose Maturatreffen besucht hättest, dann wäre auch bei dir viel hängengeblieben. Selbst wenn ich vollkommen dement wäre, würde ich noch die Namen aller Schülerinnen und später Schüler nach Klassen geordnet und in alphabetischer Reihenfolge aufsagen können. Und so manchen familiären Hintergrund dazu. Als Deutsch-Professorin erfährst du viel, vor allem von den Kleinen. Aber bei dir war das anders.
- Wieso?
- Ich bin in Döbling gleich neben den Miesbachs aufgewachsen und habe den Baufortschritt beim neuen Haus gespannt verfolgt.
- Warum haben … hast du mir das nie gesagt?
- Hm …
Frau Dr. Dirkmann zögert. Wegen Vater?
- … als ich euch unterrichtete, habe ich noch versucht, mir durch Distanz Respekt zu verschaffen.
- Aber für uns waren doch alle Lehrkräfte Autoritäten, gegen die wir nicht aufmuckten.
- Ja, schon, nur ich war neu an eurer Schule und musste mich erst beweisen. Das tat ich, indem ich Abstand hielt.
Carola spürt, dass das nicht die ganze Wahrheit ist, bohrt jedoch nicht weiter. Vielleicht erfährt sie mehr, wenn sie Johanna Dirkmann direkt gegenüber sitzt. Himmel, sie hat ja noch gar nicht den Grund ihres Telefonats genannt!
- Verstehe. Übrigens, mein Anruf hat auch mit der Schule zu tun.
Ein gedehntes Ja ist Dirkmanns Reaktion, genau in dem Tonfall, den sie anschlug, wenn Schülerinnen bei der Beantwortung einer Prüfungsfrage ins Stocken geraten waren. Es ist bloß ein vages Gefühl, das Carola veranlasst, den Namen Wasserscheidt nicht zu erwähnen und neutral zu fragen, ob sie einmal persönlich vorbeischauen dürfe. Egal, wann. Die Antwort überrascht sie erneut:
- Wie wär’s mit heute Nachmittag, aber du musst etwas mitbringen.
- Was?
- Ein Stück Esterhazy-Torte vom Heiner.
XVI.
Der grau verhangene Himmel nimmt den Häusern, Straßen und Menschen jegliche Farbe. So zumindest kommt es Gitta vor, als sie verschlafen aus dem Fenster blickt. Was Licht nicht alles ausmacht! Den Verdrüsslichen einen Schatten auf den Kinderkopf werfen lassen, das könnte einen speziellen Effekt hervorrufen. Aber was will sie damit bezwecken? Doch nicht, dass das Kind im Dunkeln ist. Wie kommt sie überhaupt auf diese absurde Idee? Gitta schüttelt den Kopf.
- Mama, was hast du?
Bernhard schaut sie über den Frühstückstisch hinweg groß an.
- Ach, nichts, ich habe mich nur über das Wetter gewundert.
- Wieso?
- So halt.
Sie essen schweigend weiter. Gitta hat die Tablette neben die Kaffeetasse hingelegt. Zum Frühstück soll sie eine nehmen, nicht schon davor, und mit viel Wasser, damit sie in den Magen gespült wird, nicht in der Speiseröhre hängen bleibt oder am Gaumen klebt und wieder ausgespuckt wird. Gestern die Hebel, hat mit ihr gesprochen, als ob sie ein Kind wäre und nicht wüsste, wie Pillen geschluckt werden. Was macht dieses kleine flache Ding? Fröhlichkeit ins Hirn schießen? Alles abtöten, was nicht normgerecht ist?
- Mama, du hast schon wieder so gemacht.
Bernhard schüttelt den Kopf wie ein regennasser Pudel. Gitta lacht.
- Ach, Bernhard. Das sind bloß meine Gedanken. Wenn zu viele auf einmal anklopfen, muss ich ihnen sagen, dass sie mich in Ruh lassen sollen.
- Wo klopfen sie an?
Mit übertrieben ausholender Bewegung führt Gitta die geballte Faust an ihre Schläfe.
- Hier.
Aufmerksam betrachtet sie der Bub.
- Von drinnen?
- Das kommt drauf an. Wenn es meine Gedanken sind, klopfen sie von drinnen an. Wenn es deine sind, von draußen.
- Meine klopfen auch an?
- Natürlich. Wenn du mir etwas erzählst, lässt du deine Gedanken raus, und ich lass sie rein. Wenn die Frau Lehrerin etwas sagt, klopfen ihre Gedanken bei dir an und du lässt sie rein. Du hast schon ganz viele da drin.
Gitta tippt auf Bernhards Stirn.
- Aber nun iss fertig.
Nachdem der Bub gegangen ist und sie das Frühstücksgeschirr abgeräumt hat, ruft Gitta in der Galerie an, doch es schaltet sich nur der Anrufbeantworter ein. Klaro, vor neun ist dort niemand. Die Assistentin hat ihr nicht gesagt, wann Ivo kommen und die Bilder holen wird. Hoffentlich noch am Vormittag, sonst wird es spät und endet in einer Sauferei. Sie wird auf alle Fälle das eigene Auto nehmen. Bloß nicht von Ivo abhängig sein.
Minuten später steht Gitta immer noch mit dem Mobiltelefon in der Hand vorm Vorzimmerspiegel. Sie betrachtet ihr Gesicht. Das straff zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene Haar gibt den Blick frei auf die breiten Backenknochen und die niedrige Stirn unterm tiefen Haaransatz. Ohne die großen Augen hätte sie ein recht banales Mondgesicht mit spitzer Nase und kleinem Mund. Aber so? Wie würde sie das ungewöhnlich helle Braun der blaugrau umrandeten Iris malen? Durchsichtig funkelnd wie Kristall? Oder matter, wärmer? Halt! Ihre Augen. Sie sind klar, die Lider nicht verschwollen. Ha, kein neuer Arztbesuch! Gitta grinst ihr Spiegelbild an und legt das Mobiltelefon auf die Ablage.
Sie will etwas tun, egal, was. Sie spürt, dass sie die Tür zum Atelier nicht öffnen, keinesfalls hineingehen will. Auf dem Parkettboden entdeckt sie Wasserflecken, Lurch in den Ecken, Erdklümpchen und Kieselsteine im Eingangsbereich. Sie sieht Paul, wie er mit spitzen Fingern Staubpartikel von seinem Anzug schnippt. Niemand zwingt mich zu malen, überlegt Gitta und holt Kübel, Fetzen und Besen. Zuerst das Badezimmer. Dort fischt sie Handtücher und Baumwollshirts aus dem Korb und gibt sie in die Waschmaschine. Während das Programm läuft und Gitta putzt, wird sich Ivo melden. Sie drückt auf den Einschaltknopf. Der Countdown beginnt. Gitta schrubbt Badewanne und Becken, wischt die Fliesen und poliert die Armaturen. Danach arbeitet sie sich mit dem Besen durch sämtliche Räume. Keine Fluse, kein Brotkrümelchen entgeht ihrem Blick. Bloß das eigene Atelier lässt sie aus. Sie will die Bilder nicht sehen, will sie nur zur Ausstellung