Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake

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Zwischen Gerechtigkeit und Gnade - Michael  Blake

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auf individuelle Interessen verstanden wird, sondern mit Blick auf die Akteure, die gedenken, im Rahmen oder entgegen dieser Interessen zu handeln. Das Recht auf Emigration ist das Recht darauf, nicht aufgrund von Zwang in einer dauerhaften Beziehung mit dem eigenen Staat verbleiben zu müssen. Dem Staat sollte es, einfach ausgedrückt, nicht erlaubt sein, diese Beziehung mittels Gewalt aufrechtzuerhalten. Aber daraus folgt nicht, dass wir einen Anspruch auf die Mittel haben, die für die Migration zwischen Staaten benötigt werden.

      2.4 Zwangsgewalt

      Meiner Antwort auf dieses Argument möchte ich die Bemerkung voranstellen, dass das Konzept des Zwangs im Allgemeinen nicht als eigenständiger Grund für offene Grenzen angeführt wird. Anzuerkennen, dass wir an den Grenzen Zwangsgewalt ausüben, zielt vielmehr darauf ab, die Annahme zu erschüttern, Ausschluss wäre moralisch unproblematisch. Wir bedrohen Individuen an der Grenze und müssen ihnen daher vielleicht auch eine Rechtfertigung für unser Handeln anbieten. Diese Tatsachen nutzt Abizadeh, um auf der Unzulässigkeit der einseitigen Zurückweisung von Personen zu bestehen. Carens wiederum verweist in seinem Argument auf diesen Umstand, um die von mir getroffene Unterscheidung – zwischen denjenigen, die sich in Reichweite der Zwangsbefugnis des Staates befinden und denjenigen, die in diese Reichweite gelangen wollen – als moralisch falsch zu verwerfen. Schließlich wird über die Menschen an den Grenzen ebenso Zwangsgewalt ausgeübt und jener Zwang hat ebenfalls „tiefgreifende Folgen“, die in ihrer Schwere den Folgen gleichkommen, die innerstaatlicher Zwang für die Bürgerinnen des ausschließenden Staates bedeutet.60

      Allerdings können wir auch in diesem Fall fragen, ob es allein die Stärke des infrage stehenden Interesses ist, die ein politisches Recht begründen kann. Ein Staat schuldet verschiedenen Menschen unterschiedliche Dinge, und zwar abhängig davon, wie und wo er Zwangsgewalt über sie ausübt. Daraus folgt jedoch nicht, dass alle der von dieser Zwangsgewalt betroffenen Personen über dieselben Rechte angesichts dieses staatlichen Zwangs verfügen. Ganz klar ins Auge fällt dieser Umstand im innerstaatlichen Kontext. Wenn meine Frau durch den Staat bestraft wird, ergeben sich daraus unzweifelhaft auch bedeutende Folgen für mich selbst. Ich könnte in manchen Fällen durch die Haft meiner Frau in gleichem Maße geschädigt werden wie sie selbst. Aber daraus folgt nicht, dass die Strafe für meine Frau nicht insbesondere ihr gegenüber gerechtfertigt werden sollte. Während in diesem Fall zwar wir beide in unseren Interessen betroffen sind, ist sie allein diejenige, die durch die Zwangsgewalt des Staates bestraft wird und dieser Umstand stattet sie mit Rechten aus, die mir nicht zukommen. Es ist daher, in anderen Worten, nicht die gefühlte Bedeutung dessen, was mir angetan wird, die den zentralen Teil unserer Diskussion darstellen sollte, sondern ob das, was mir angetan wird, gerechtfertigt ist.

      Diese Ideen können wir nun auf den Einsatz von Zwangsgewalt an Staatsgrenzen anwenden. Stellen Sie sich vor, ich möchte nach England ziehen und wurde davon mit gewaltsamen Mitteln abgehalten – diese Zurückweisung macht es mir nun unmöglich, eine Reihe von Dingen zu erreichen, die ich gerne in meinem Leben hätte. Wir können uns darüber hinaus vorstellen, dass meine Zurückweisung durch das Vereinigte Königreich einer „richtungsweisenden Entscheidung“ mit „tiefgreifenden Folgen“ für mein restliches Leben entsprach. Das bedeutet jedoch nicht, dass mir in der britischen Politik dieselben Rechte zustehen wie denjenigen, die bereits im Vereinigten Königreich leben. Da das Leben letzterer bereits anhand des britischen Rechts durch die staatliche Zwangsgewalt strukturiert wird, verfügen sie auch über spezifische Rechte gegenüber den britischen politischen Institutionen, darunter, wie ich bereits gezeigt habe, das Recht auf Bewegungsfreiheit innerhalb des Vereinigten Königreichs. Meine Interessen statten mich nicht mit dem gleichen Bündel an Rechten aus. Eine andere Art über dieses Problem nachzudenken besteht in der Vorstellung, dass noch vor meiner Zurückweisung eine Katastrophe den britischen Staat zusammenbrechen lässt und das Vereinigte Königreich in einen Zustand permanenter Anarchie abrutscht. Das wäre offensichtlich kein ganz geringes Problem für meine Zukunftspläne. Aber als Außenstehender würde mir durch die Abwesenheit politischer Institutionen im Vereinigten Königreich kein Unrecht geschehen. Ich könnte hier in den Vereinigten Staaten verbleiben; ich wäre zwar enttäuscht, aber es kann kein Menschenrecht darauf geben, frei von Enttäuschungen zu leben. Mein Interesse an den politischen Institutionen Großbritanniens ist einfach mein – wie auch immer stark ausgeprägtes – Interesse daran, durch diese Institutionen regiert zu werden. Den gegenwärtigen Einwohnerinnen des Vereinigten Königreichs – denjenigen also, die bisher unter dem britischen Gesetz standen – würde hingegen durch einen solchen Zusammenbruch ein schwerwiegendes Unrecht angetan. Selbst wenn ich von tiefstem Herzen ein Bürger des Vereinigten Königreichs werden möchte, werde ich durch die Abwesenheit des Vereinigten Königreichs als politischer Gesellschaft nicht ungerecht behandelt. Dem Volk Großbritanniens allerdings würde ein drastisches Unrecht widerfahren. Diese Menschen haben ein Recht auf eine gewisse Form politischer Gemeinschaft, und die neu eingetretene Gesetzlosigkeit würde dieses Recht verletzen. Genau wie ich mögen sie Zukunftspläne im Vereinigten Königreich geformt haben, aber der Unterschied zwischen uns besteht in der Beziehung zu dem, was das Vereinigte Königreich ist. Wir können daher bei der Bestimmung der Rechte, die wir gegenüber bestimmten Institutionen haben, nicht einfach nur darauf schauen, wie der Ausschluss aus einer politischen Gemeinschaft unsere Zukunftspläne beeinflusst. In welchem Verhältnis wir zu diesen Institutionen stehen – was sie gegenüber uns zu tun gedenken– ist ein wichtiger Teil des Gesamtbilds und zwar ein Teil, der von den Verteidigerinnen offener Grenzen im Allgemeinen ignoriert wird.

      Ich möchte zum Abschluss dieses Kapitels jedoch die Bedeutung des Konzepts der Zwangsgewalt für die Theoriebildung im Bereich der Migration anerkennen. Selbst wenn Grenzen nicht immer mit gewaltsamen Mitteln verteidigt werden, sind potentielle Migrantinnen doch häufig mit der Möglichkeit von Gewaltanwendung konfrontiert, wenn sie eine Linie zwischen zwei Hoheitsgebieten überschreiten wollen. Und diese Gewaltanwendung müssen wir auf irgendeine Weise rechtfertigen. In diesem Kapitel habe ich versucht zu zeigen, weshalb wir nicht denken müssen, dass eine solche Rechtfertigung unmöglich ist – warum also aus der Idee liberaler Gerechtigkeit nicht notwendigerweise die Öffnung aller Grenzen folgt. Allerdings benötigen wir eine Theorie, die uns zeigt, wie und in welchen Fällen und aus welchen Gründen wir diese Grenzen schließen dürfen. Es ist diese Aufgabe, der wir uns nun zuwenden können.

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