Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake
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„Es ist schwer vorstellbar, dass es eine Form staatlichen Zwangs jenseits der Haft gibt, die tiefgreifendere Auswirkungen auf das Leben einer Person hat, als die Verweigerung der Einreise. Mit ihr gehen gewaltige Folgen hinsichtlich der Lebensentscheidungen einher, die eine Person im Anschluss noch treffen kann […] für viele Menschen hat selbst die fortdauernde Präsenz staatlicher Macht in ihrem Alltag keinen solch durchdringenden Einfluss auf ihr Leben wie die ursprüngliche Bestimmung darüber, wo sie hingehören und wo sie leben dürfen – oder nicht dürfen.“40
Für Carens sind in diesen Fällen die Auswirkungen staatlicher Zwangsgewalt auf die von ihr betroffenen Personen so schwerwiegend, dass wir meinen sollten, eine angemessene Rechtfertigung könnte kaum gegeben werden. Um es kurz zu machen: Ein liberaler Staat muss seinen eigenen Überzeugungen gerecht werden. Im Falle eines der Zwangsgewalt an der Grenze unterworfenen, potentiellen Immigranten scheint eine Rechtfertigung jedoch nicht vorhanden zu sein. Demnach ist seine Zurückweisung als ungerecht zu bezeichnen und das angebliche Recht eines Staates auf den Ausschluss ungebetener Migrantinnen muss als Illusion begriffen werden.
2. Die politische Gerechtigkeit staatlichen Ausschlusses
Die soeben nachvollzogenen Argumente sind in meinen Augen sehr stark und stellen, wie bereits gesagt, bedeutende Herausforderungen für die gängigen Vorstellungen politischer Moral innerhalb unserer Gesellschaft dar, in denen das Recht auf Ausschluss für gewöhnlich außer Frage steht. Allerdings glaube ich auch, dass diesen Herausforderungen erfolgreich begegnet werden kann. Entsprechend bin ich nicht der Meinung, dass eines dieser Argumente – so stark sie auch sein mögen – erfolgreich Gründe dafür formuliert, staatlichen Ausschluss als inhärent ungerecht auszuweisen. Auch hier möchte ich nochmals erwähnen, dass ich nicht behaupte, jegliche Form von Ausschluss könnte gerechtfertigt werden – wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde, ist das ausdrücklich nicht der Fall. Wir benötigen eine Theorie der Gerechtigkeit im Bereich der Migration, die es uns ermöglicht, richtige Entscheidungen darüber zu treffen, welche Formen des Ausschlusses ungerecht sind. In diesem Kapitel möchte ich jedoch zunächst lediglich darlegen, weshalb ich weiterhin denke, dass diejenigen, die jegliche Form staatlichen Ausschlusses als ungerecht bezeichnen, falsch liegen.
Meiner Kritik dieser Argumente liegt die Überzeugung zugrunde, dass keine dieser Überlegungen auf angemessene Weise die Tatsache der Gebietshoheit (jurisdiction) in Betracht zieht – hierunter verstehe ich die Tatsache, dass der Staat die Ausübung seiner Zwangsgewalt legitimerweise allein über diejenigen Individuen beanspruchen kann, die sich in einem bestimmten Teil der Welt aufhalten. In meinen Augen haben alle Personen, die sich innerhalb eines solchen Hoheitsgebiets aufhalten, eine besondere Beziehung sowohl zueinander, als auch zu dem Staat, der über dieses Gebiet herrscht. Diese Beziehung ist eine politische Beziehung und beinhaltet die Durchsetzung zwingender rechtlicher Regeln innerhalb eines bestimmten Territoriums; für diejenigen, die sich in diesem Gebiet aufhalten, erschaffen jene Regeln eine soziale Welt. Diese Zwangsbefugnis begründet jedoch die Notwendigkeit einer Rechtfertigung gegenüber genau jenen Individuen, die mit dem Staat in dieser, mit Zwang verbundenen, politischen Beziehung stehen. Damit ist allerdings nichts anderes gemeint, als dass diese Individuen moralische Rechte auf bestimmte Garantien dafür haben, wie diese Zwangsgewalt ausgeübt wird. Folglich gibt es Rechte, die am besten als Bürgerrechte, nicht als Menschenrechte, bezeichnet werden, und zwar aus dem Grund, dass diese Rechte nur im Kontext einer Gesellschaft von Bürgerinnen, die von einem mit Zwangsgewalt ausgestatteten Staat regiert werden, ihre korrekte Anwendung finden können. Um Missverständnissen vorzubeugen möchte ich betonen, dass solche Rechte hinsichtlich ihres Geltungsbereichs universal sind; sie gelten also für alle Menschen, oder sollten das zumindest. An anderer Stelle habe ich gezeigt, dass alle Menschen das Recht auf einen Staat haben, der ihnen eine adäquate Form demokratischer Mitsprache ermöglicht.41 Wir können daher ein Menschenrecht auf eine Gesellschaft haben, in der wir mit Bürgerrechten ausgestattet sind. Wie ich in Kapitel 4 zeigen werde, ist allerdings nicht klar, weshalb wir, sobald wir über solche Bürgerrechte verfügen, ein Recht darauf haben sollten, in einer bestimmten Gesellschaft zu leben. An dieser Stelle möchte ich jedoch zunächst nur bemerken, dass derlei Bürgerrechte nur konkreten Menschen in konkreten politischen Gemeinschaften zukommen und nicht abstrakten Menschen jenseits solcher Gemeinschaften. Viele der Argumente, die gegen ein Recht auf Ausschluss vorgebracht werden, übersehen diesen politischen Kontext, aus dem heraus die von ihnen angeführten Rechte jedoch erst ihre moralische Bedeutung gewinnen.
2.1. Willkürlichkeit
Das Argument der Willkürlichkeit führt an, dass Rawls’ Gerechtigkeitsbegriff die Verteilung grundlegender Rechte auf der Basis willkürlicher Unterscheidungen ablehnt; dieser Gedanke wird dann genutzt, um den Ausschluss von Migrantinnen als illegitim anzufechten. Das Problem mit diesem Argument besteht jedoch darin, dass die Idee der Willkürlichkeit uns zwar vorschreibt, Ungleichheiten nicht auf der Basis moralisch irrelevanter Fakten zu rechtfertigen – allerdings behauptet sie nicht, dass jede Form von auf Zufall beruhender Ungleichheit auch moralisch fragwürdig sein muss. Wir können das an einem Beispiel aus dem vorangegangenen Kapitel erkennen: Es ist nicht ungerecht, mir das Wahlrecht in Frankreich zu verweigern, und dass obwohl die Grenzen zwischen Frankreich und anderen Ländern letztlich, je nach Perspektive, Resultate des Zufalls oder moralischen Unrechts sind – und dasselbe gilt hinsichtlich des Umstands, dass ich zufällig in Kanada statt in Frankreich geboren wurde. Aus der der Tatsache, dass in diesem System Glück und Zufall eine große Rolle spielen, folgt daher nicht notwendig, dass die ungleiche Verteilung des Wahlrechts in einem moralisch zu verurteilenden Sinne zufällig ist. Die französische Bürgerin hat eine bestimmte Beziehung zu ihrer Regierung, die in meinem Falle nicht besteht, da ich weder in Frankreich geboren wurde, noch dort lebe. Diese Beziehung lässt die besonderen Rechte der französischen Bürgerinnen gegenüber ihrer Regierung als moralisch angemessen erscheinen, selbst wenn es bloßer Zufall ist, dass sie in Frankreich geboren wurde und ich in Kanada zur Welt kam. Die Ungleichheit zwischen uns ist folglich, selbst wenn sie ursprünglich auf reinem Zufall beruhte, aufgrund der Tatsache gerechtfertigt, dass die politische Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Staat sich von der meinigen zu meinem Staat unterscheidet.
Warum aber ist das von Bedeutung? Ich denke, diese Beobachtung ist deshalb wichtig, weil einige der Argumente gegen ein Recht auf Ausschluss davon auszugehen scheinen, dass jeglicher Anteil von Zufall eine Ungleichheit bereits als ungerecht qualifiziert. So argumentiert beispielsweise Carens in seinen früheren Arbeiten, dass wir John Rawls’ Vorstellung der Gerechtigkeit als Fairness global anwenden sollten und folglich die von Rawls verteidigten Bewegungsreche entsprechend für die Welt als Ganze gelten sollten. Eine solche Vorgehensweise übersieht jedoch, dass Rawls seinen Ansatz auf die spezifische Frage begrenzen wollte, wie eine politische Gesellschaft ihre mit Zwang verbundenen Gesetze und Praktiken vor allem gegenüber den in ihrem Hoheitsgebiet anwesenden Personen rechtfertigen kann. Als Rawls seine Aufmerksamkeit dem internationalen Recht zuwandte,