Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake

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Zwischen Gerechtigkeit und Gnade - Michael  Blake

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Institutionen betont Rawls die Idee, dass aufseiten derjenigen, die unter Ungerechtigkeit leiden, starke Ansprüche bestehen. Die Idee der Gerechtigkeit begründet also bestimmte und besonders starke Ansprüche auf die Korrektur ungerechter Verhältnisse. Der zweite Aspekt, den ich hervorheben möchte, besteht in der Beziehung der Gerechtigkeit zur Idee der Gleichheit. Ungerechtigkeit bedeutet demnach Ungleichheit hinsichtlich eines bestimmten Lebensbereichs; tatsächlich kann es als eine Tatsache im Begriff der Gerechtigkeit betrachtet werden, dass sie bestimmte Aspekte von Personen benennt, in Hinsicht auf die diese Personen das Recht haben, als moralisch gleichwertig behandelt zu werden.13 Rawls’ Verwendung des Konzepts der Willkür gibt diese Vorstellung von Gleichheit wieder: Wenn verschiedene Individuen den sozialen Institutionen in einer ähnlichen Situation gegenüberstehen, ist es ungerecht, wenn diese sozialen Institutionen sie aufgrund eines willkürlich bestimmten Fakts unterschiedlich behandeln. Zuletzt möchte ich den institutionellen Aspekt der Gerechtigkeit hervorheben. Die Sprache der Gerechtigkeit ist umfassend: Wir können Individuen wie auch persönliche Verpflichtungen oder persönliche Beziehungen als gerecht oder ungerecht bezeichnen. Die besondere Form der Gerechtigkeit, von der Rawls spricht, bezieht sich hingegen auf Menschen, die durch soziale – allgemeiner: politische – Institutionen verbunden sind.

      Wie aber kann uns dieses weite Verständnis von Gerechtigkeit dabei helfen, zu verstehen, welche Formen sozialer Institutionen zu Recht als ungerecht verurteilt werden können? Wie bereits erwähnt, argumentiert Rawls, dass wir eine bestimmte Vorstellung der Gerechtigkeit entwickeln müssen, um zu verstehen, wie wir die abstrakten Bestimmungen des formalen Begriffs der Gerechtigkeit interpretieren und anwenden sollen. Für die Entwicklung einer solchen Vorstellung werden uns jedoch ein paar Hinweise gegeben. Es gibt einige provisorische Orientierungspunkte, die uns dabei helfen, die Sprache der Gerechtigkeit auf die Welt der Politik anzuwenden. Rawls folgt dabei der Logik Abraham Lincolns, der anmerkte, dass der Begriff der Ungerechtigkeit jeglichen Sinn verlieren würde, könnte mit ihr nicht die Sklaverei als ungerecht verurteilt werden.14 Mit Blick auf unsere jüngere Geschichte könnten wir ähnliche Dinge über die Muster der Marginalisierung und Ausgrenzung in den Vereinigten Staaten zu Zeiten von Jim Crow sagen: In den USA zur Zeit der Rassentrennung wurden rechtlich im Prinzip gleichgestellten Personen völlig ungleiche Anteile an politischer Macht, materiellen Ressourcen und öffentlichem Respekt zuteil. Wie im Falle der Sklaverei könnten wir sagen: Sollten diese Verhältnisse nicht als ungerecht gelten, wie könnten wir irgendetwas als ungerecht bezeichnen? Es gibt keinen legitimen Grund zu glauben, dass eine solche Art von Ungleichheit mit Gerechtigkeit in Einklang zu bringen sei und jede Vorstellung der Gerechtigkeit, die Jim Crow als gerecht bezeichnet, könnte allein aufgrund dieser Tatsache zu Recht als ungerecht zurückgewiesen werden.

      Mit diesen Gedanken im Hinterkopf stellt sich die Frage, wie der abstrakte Begriff der Gerechtigkeit uns im Hinblick auf bestimmte Formen der Migration und der Migrationspolitik weiterhelfen könnte. Gibt es möglicherweise auch hier Schlussfolgerungen, die so eindeutig richtig sind, dass sie uns als Maßstab für die Bewertung von Gerechtigkeitsvorstellungen im Bereich der Migration dienen könnten?

      Es fällt schwer, anzunehmen, dass es irgendetwas im Bereich der Migrationspolitik gibt, das nicht durch irgendwen abgelehnt wird. Ich glaube jedoch, dass es einige Schlussfolgerungen gibt, die bloß schwerlich von irgendwem zurückgewiesen werden könnten, der behauptet, den Werten moralischer Gleichheit verpflichtet zu sein, die dem in diesem Buch verwendeten Begriff der Gerechtigkeit zugrunde liegen. Demzufolge gibt es tatsächlich einige Möglichkeiten, bestimmte Formen der Migrationspolitik als im gleichen Maße ungerecht – also tatsächlich eindeutig ungerecht – zu bezeichnen wie die Verhältnisse zu Zeiten von Jim Crow. Sollte dies zutreffen, müsste jede Vorstellung von Migrationsgerechtigkeit entweder diese Schlussfolgerungen anerkennen oder mit einer recht wagemutigen Geschichte darüber aufwarten, warum sie dazu nicht verpflichtet ist; und ich kann mir nicht einmal ausmalen, wie eine solche Geschichte aussehen sollte.

      Der erste Orientierungspunkt bezieht sich auf die Idee der Gleichheit von Bürgerinnen gegenüber dem Staat. Migrationspolitik betrifft demnach nicht bloß diejenigen außerhalb der Grenzen; wie diese Politik wahrgenommen und durchgesetzt wird kann durchaus auch die Gleichheit derjenigen einschränken, die selbst keine Migrantinnen sind. Denken Sie beispielsweise daran, wie die Rassifizierung des Migrationsrechts das öffentliche Leben für Bürgerinnen lateinamerikanischer und nicht-lateinamerikanischer Herkunft beeinflussen kann. So schafften beispielsweise die von Sheriff Joe Arpaio angewendeten Praktiken zur Durchsetzung des Migrationsrechts ein Klima der Angst und Einschüchterung unter den Bürgerinnen lateinamerikanischer Herkunft von Phoenix, und zwar ganz unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status: Arpaio schikanierte mit seinen Kontrollen regelmäßig Autofahrerinnen und Autofahrer lateinamerikanischer Herkunft und richtete sogar eine Task Force zu dem Zwecke ein, undokumentierte Einwanderer aufzuspüren und zu bestrafen, was schließlich dazu führte, dass die betroffenen Bürgerinnen in den einfachsten Verrichtungen ihres Alltags eingeschränkt wurden.15 Die soziale Funktion der wiederholten Erfahrung solcher Maßnahmen besteht letztlich in der Marginalisierung und Disziplinierung aller Einwohnerinnen, die aus Lateinamerika stammen. Amy Reed-Sandoval bezeichnet die Maßnahmen von Arpaios Beamten berechtigterweise als ein Schauspiel der Ungleichheit, durch das die Betroffenen an ihren untergeordneten und marginalisierten Status erinnert werden sollen.16 Eine Theorie der Gerechtigkeit der Migration wird daher anerkennen müssen, dass bestimmte Ausschluss- und Durchsetzungsformen zu Ungleichheiten zwischen Bürgerinnen führen können und diejenigen Ungleichheiten zwischen Bürgerinnen, die innerstaatlich als Ausweis für Ungerechtigkeit gelten, werden auf ähnliche Weise auch im Hinblick auf die Bewertung der Migrationspolitik als Maßstab dienen können.

      Der zweite Orientierungspunkt bezieht sich auf den Gedanken, dass es Bereiche geben kann, in denen Nicht-Bürgerinnen einen Anspruch darauf haben, vor dem Gesetz ebenso behandelt zu werden wie Bürgerinnen. Wie ausgedehnt diese Bereiche sind, ist selbstredend Gegenstand kontroverser Diskussionen. So dient die Beschwörung der „Illegalität“ beispielsweise oft dem Zweck, die Inanspruchnahme von Rechten durch Migrantinnen prinzipiell zu diskreditieren. (Der rechte Slogan What part of illegal dont‘t you understand? versucht gar, undokumentierten Migrantinnen unter Verweis auf ihren fehlenden legalen Aufenthaltstitel jeglichen moralischen Status abzusprechen.) Aber diese Beschwörung der Illegalität scheint nicht wirklich stark genug, um den Gedanken zu widerlegen, dass es Bereiche gibt, in denen selbst diejenigen außerhalb des Staatsgebiets – oder diejenigen, die ohne Recht innerhalb des Staates anwesend sind – das Recht auf die gleiche Behandlung wie Bürgerinnen haben. Ein einfaches Beispiel ist sicherlich der Schutz durch die Polizei: Unrechtmäßig in den USA lebende Personen sind zwar stets von Abschiebung bedroht, verlieren hierdurch jedoch nicht ihr Recht auf den Schutz vor Mord oder Raub.17 Ein anderes Beispiel ist der Fall von Kindern, deren unrechtmäßige Präsenz korrekterweise als Ergebnis der Handlungen ihrer Eltern verstanden wird und nicht als Resultat einer Handlung der Kinder. Der Supreme Court bemerkte in Plyler v. Doe, dass sich daraus auch für diejenigen ein Recht auf Grundschulbildung ableitet, die sich ohne Aufenthaltsrecht in den USA aufhalten:

      „Zumindest sollten diejenigen, die unser Staatsgebiet insgeheim und unter Verletzung unseres Gesetzes betreten, darauf gefasst sein, die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen, darunter, wenn auch nicht allein, die Abschiebung. Allerdings trifft dies auf die Kinder dieser illegal eingereisten Personen nicht auf gleiche Weise zu. Ihre Eltern können das eigene Verhalten den geltenden sozialen Regeln anpassen und es ist anzunehmen, dass sie das Hoheitsgebiet des jeweiligen Bundesstaates auch wieder verlassen können; aber die Kinder, die im vorliegenden Fall die Klägerinnen sind, können weder das Verhalten ihrer Eltern noch ihre eigene Lage beeinflussen. Selbst wenn der Bundesstaat es als angebracht ansehen sollte, das Verhalten der Eltern durch Handlungen gegen deren Kinder zu beeinflussen, steht eine Gesetzgebung, welche die Folgen elterlicher Verfehlungen gegen deren Kinder wendet, im Widerspruch zu fundamentalen Vorstellungen der Gerechtigkeit.“18

      Mit anderen Worten: Es gibt einige eindeutige Fälle, in denen Immigrantinnen durch eine Bestrafung ungerecht behandelt werden, selbst dann, wenn im Einzelfall kein Recht auf einen Aufenthalt in dem Land besteht, das diese Strafe

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