Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake
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Wir können daher nun zur Diskussion dessen übergehen, was ich unter diesen Anforderungen und Garantien verstehe. An dieser Stelle möchte ich einige Prämissen erläutern, auf denen meine späteren Argumente aufbauen werden. Ich gehe davon aus, dass diese Prämissen verteidigt werden können und habe auch an anderer Stelle versucht, einige von ihnen zu rechtfertigen. Im Kontext dieses Buches möchte ich sie jedoch einfach als Ausgangspunkte anbieten. Wer mit diesen Punkten nicht einverstanden ist, wird sicher auch den nachfolgenden Überlegungen nicht zustimmen. Erklärungen müssen jedoch an einem bestimmten Punkt enden und die meinigen enden hier, mit fünf Prämissen, anhand derer ich das Recht auf Ausschluss sowohl begründen als auch einschränken werde.
1 – Autonomie. Ich gehe davon aus, dass menschliche Wesen ein Recht auf Verhältnisse haben, unter denen sie als autonome Akteure leben können. Damit meine ich nichts metaphysisch Stärkeres, als dass sie dazu fähig sein sollen, sich ein für sie wertvolles Leben aufzubauen, in dem ihre eigene Handlungsfähigkeit (agency) eine bedeutende Rolle bei der Bestimmung ihrer Aktivitäten und der von ihnen verfolgten Pläne spielt. Ich nehme an, dass es sich dabei insofern um einen kosmopolitischen Wert handelt, als dass alle Menschen einen Anspruch auf Verhältnisse haben, die eine solche Autonomie ermöglichen. Alle Menschen haben daher ein Recht auf dasjenige Bündel von Institutionen, das eine solche Autonomie garantiert und gewährleistet. Institutionen wie beispielsweise Staaten können ihre moralische Aufmerksamkeit daher nicht bloß auf die Autonomie ihrer eigenen Bürgerinnen beschränken. Sie sind vielmehr dazu verpflichtet, gemeinsam eine Welt zu errichten, in der alle Individuen mit den Rechten und Ressourcen ausgestattet sind, die sie für ein autonomes Leben benötigen. Dabei werde ich eine recht schlanke Idee von Autonomie verwenden, die bloß verlangt, dass, wie Joseph Raz es formulierte, die betroffenen Individuen zumindest als Teilautoren ihres eigenen Lebens verstanden werden können.35 Doch selbst aus einem solchen Verständnis von Autonomie können bedeutende Schlüsse gezogen werden. Ich verstehe liberale politische Philosophie, zumindest in der Tradition von John Rawls, als einen Weg zur Bestimmung der Art von Politik, die eine solche Form von Autonomie am ehesten respektiert. In seinem Werk ging Rawls davon aus, dass Individuen mit einer bestimmten Vorstellung davon ausgestattet sind, was ihr Leben wertvoll macht – in Rawls’ Worten also eine Idee vom Guten besitzen – und dass politische Maßnahmen gegenüber allen Individuen unter Bezug darauf gerechtfertigt werden müssen, wie sie den Einzelnen die Verwirklichung dieser Idee innerhalb eines gesellschaftlichen Kooperationszusammenhangs ermöglichen.36 Mir ist bewusst, dass die Idee der Autonomie deutlich komplexer ist, aber ich hoffe, dass diese Komplexität zumindest für den Moment beiseitegelassen werden kann.
2 – Pläne. Darüber hinaus werde ich annehmen, dass die Ausübung von Autonomie die Fähigkeit voraussetzt, Pläne machen zu können.37 Diese Idee lässt sich ebenfalls bei Rawls finden, für den das Gut, das wir verfolgen, uns nicht nur ermöglicht, in der Gegenwart zu handeln, sondern auch, unserem Handeln über die Zeit hinweg eine Struktur zu geben. Eine Person ist für Rawls daher „ein menschliches Leben, das nach einem Plan gelebt wird“.38 Die Idee eines Plans ist deshalb wichtig, weil sie es uns erlaubt, Autonomie mit unserer Erfahrung von Zeit zu verbinden. Hätten wir keinen Sinn für Erinnerungen oder Erwartungen, könnten wir zwar mitunter noch immer über eine Vorstellung vom Guten verfügen, sie wäre aber nicht mehr von der Art, wie sie dem menschlichen Leben, so wie wir es kennen, eigen ist. Wir erinnern uns an Wertvolles in der Vergangenheit und blicken voraus auf Wertvolles in der Zukunft; wir leben sozusagen in der Zeit und wissen um diese Tatsache, weshalb sich das Gute für uns Menschen von, sagen wir, dem Guten für einen Goldfisch unterscheidet. Daraus folgt jedoch, dass unsere Autonomie nicht nur einfach durch die Verweigerung von Freiheit zum gegenwärtigen Zeitpunkt eingeschränkt werden kann, sondern auch durch die Verweigerung der Ressourcen und Rechte, die für ein Handeln über die Zeit hinweg vonnöten sind. Wir benötigen somit Verhältnisse, die uns potentiell dazu befähigen, sowohl unsere Pläne auszugestalten als auch zu verfolgen und dabei zugleich den Schranken Rechnung zu tragen, die aus der Tatsache einer geteilten sozialen Welt erwachsen.
3 – Staaten. Aus den vorangegangenen Überlegungen folgt ein Bedürfnis nach politischer Gesellschaft. Wir brauchen gewisse gefestigte Erwartungen, ohne die wir keine Sicherheit erfahren könnten, sei es im Hinblick auf unsere Person oder unser Eigentum. Ich werde daher annehmen, dass es einen Bedarf an Staaten gibt, worunter ich Institutionen verstehe, die zur Durchsetzung bestimmter kollektiver Normen mittels Zwang berechtigt sind. Mit anderen Worten, ich nehme an, dass eine politische Gesellschaft für Menschen wie uns notwendig ist, um die implizit im Konzept der Autonomie enthaltenen Planungshandlungen ausführen zu können. Ich behaupte nicht, dass diese politischen Gesellschaften die Formen annehmen müssen, die wir ihnen im Verlauf der Geschichte gegeben haben. Noch weniger behaupte ich, dass die existierenden Grenzverläufe in irgendeinem Sinne zwingend sind oder ihre jetzige Form natürlicherweise haben müssen. Allerdings meine ich, dass irgendeine Form politischer Gesellschaft moralisch notwendig ist, und dass dieser Umstand die Existenz der Staaten dieser Welt rechtfertigt, sofern diese Staaten ihre politische Macht auf gerechtfertigte Weise ausüben.
4 – Rechtfertigung. Da wir geschichtlich betrachtet in einer Welt angelangt sind, in der Staaten territorial verankert sind, können Staaten in dieser Welt unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Weise behandeln. So bin ich beispielsweise gerade nicht in Frankreich und habe auch keinen Anspruch auf die französische Staatsbürgerschaft, weswegen mich der juristische Apparat Frankreichs nicht direkt zu bestimmten Handlungen oder Unterlassungen zwingen kann. Hingegen bin ich ziemlich vulnerabel im Hinblick auf die Entscheidungen der politischen und rechtlichen Institutionen der Vereinigten Staaten. Diese können mein Eigentum an sich nehmen, mich ins Gefängnis stecken oder mich – im äußersten Falle – hinrichten. Aus diesen Tatsachen folgt jedoch, dass Staaten unterschiedlichen Personen gegenüber auf verschiedene Weisen dazu verpflichtet sind, das eigene Handeln zu rechtfertigen. In einem anderen Zusammenhang habe ich argumentiert, dass viele Normen der Verteilungsgerechtigkeit am besten als eine Art der Rechtfertigung politischen Zwangs gegenüber den diesem Zwang unterworfenen Personen zu verstehen sind; John Rawls’ innerstaatliche Gerechtigkeitsprinzipien sind demnach im globalen Kontext nicht anwendbar, weil es dort keinen Staat gibt, dessen Zwangsentscheidungen durch diese Prinzipien legitimiert werden würden.39 Im Kontext dieses Buches stelle ich keine solche Behauptung auf; vielmehr möchte ich allein die strukturelle Tatsache feststellen, dass Staaten, zum einen, andere Verpflichtungen gegenüber denjenigen haben können, die unter ihrer Zwangsgewalt stehen, als gegenüber denjenigen, für die das nicht der Fall ist und, zum anderen, dass diese Differenz aus der Idee des universellen Respekts vor der individuellen Autonomie abgeleitet werden kann und diesem Respekt daher nicht widerspricht.
5 – Menschen- und Bürgerrechte. Schließlich möchte ich eine strukturelle Differenz zwischen verschiedenen Arten moralischer Rechte behaupten. Manche Rechte sind eine direkte Folge des Prinzips der Autonomie. Das Recht, nicht gefoltert zu werden, sehe ich als eine Instanz dieser Form von Rechten an: Wird ein Mensch gefoltert, ist er nicht länger ein autonomer Akteur, vielmehr ist sein Körper selbst das Werkzeug einer anderen Person geworden.40 Das internationale Menschenrecht auf Freiheit von Folter spiegelt daher offenkundig das kosmopolitische Recht auf autonome Handlungsfähigkeit wider. Andere Rechte hingegen existieren als Rechtfertigung für politische Herrschaft mittels Zwang gegenüber denjenigen autonomen Individuen, die unter diesem Zwang leben. In meinen Augen ist das Recht zu wählen von solcher Art. Für die Entscheidung, mir das Wahlrecht in Frankreich zu verweigern, ist es irrelevant,