Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake

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Zwischen Gerechtigkeit und Gnade - Michael  Blake

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es nicht zuließ, Arbeitsrechte einzufordern.7 Nur ein vergleichsweise geringer Anteil dieser Gewinne floss zurück nach Mexiko. Auf der „richtigen“ Seite des Rio Grande geboren zu sein scheint demnach so etwas wie das moderne Äquivalent einer glücklichen Geburt innerhalb feudaler Gesellschaften darzustellen, also die zufällige Verteilung unverdienter Vorteile an einige glückliche Personen qua Geburt.8 Eine vollständige Moraltheorie der Migration würde uns daher helfen, zu verstehen, wie Staaten bei der Ausgestaltung ihrer Migrationspolitik durch Forderungen globaler Verteilungsgerechtigkeit eingeschränkt werden könnten.

      (3) – Migration und innerstaatliche wirtschaftliche Gerechtigkeit. Wenn Menschen migrieren, treten sie oft dem Arbeitsmarkt ihrer neuen Gesellschaft bei; die damit verbundenen Effekte sind komplex und widerstehen jeglicher Vereinfachung.9 Es gibt allerdings einige häufiger auftretende Effekte, die einer moralischen Betrachtung wert sein könnten. Der erste betrifft die Tendenz einheimischer Personen, in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten Immigrantinnen als die Ursache der ökonomischen Misere anzusehen. Wie die US Commission on Civil Rights es prägnant formulierte: jede neue Generation von Immigrantinnen wird letztendlich von der Generation abgelehnt, die vor ihr kam.10 Der zweite Effekt betrifft hingegen die simple Tatsache, dass die Anwesenheit von Einwanderern auf dem Arbeitsmarkt sowohl das Arbeitsangebot für die einheimische Bevölkerung als auch die Löhne für verschiedene Tätigkeiten beeinflusst.11 Von vielen dieser Entwicklungen profitieren alle Teile der Gesellschaft, von einigen allerdings nicht, und dieser Umstand betrifft vor allem Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen, die im Wettbewerb mit Immigranten um gering entlohnte Arbeit und Gelegenheitsjobs stehen.12 Sofern wir uns um die wirtschaftliche Gerechtigkeit zwischen reichen und armen Bürgerinnen eines demokratischen Staates sorgen, könnten wir also gute Gründe haben, diese Entwicklungen kritisch zu hinterfragen – genauso wie für die Frage, ob eine vollständige Moraltheorie der Migration es überhaupt vorschreiben würde, unsere Migrationspolitik in Abhängigkeit dieser Problematik auszugestalten.

      (4) – Migration und ethnische Gerechtigkeit. Die Migrationsbewegungen in die Vereinigten Staaten nach dem Immigration and Nationality Act von 1965 spiegeln nicht explizit Ideen ethnischer Über- oder Unterlegenheit wider. Allerdings besitzt die Migrationspolitik durchaus das Potential, ethnische Hierarchien abzubilden und zu verstärken. So trug die frühere amerikanische Migrationspolitik deutlich rassistische Züge. Der Immigration Act von 1924 wurde mit dem „wissenschaftlichen“ Rassismus Madison Grants gerechtfertigt, der auch für Gesetze gegen die sogenannte „Rassenmischung“ eintrat. Noch vor diesem Gesetz hatte der Chinese Exclusion Act explizit „jede Person der chinesischen oder mongolischen Rasse“ vom Betreten der Vereinigten Staaten zum Zwecke der Einwanderung ausgeschlossen.13 Neuere Formen des Ausschlusses offenbaren ihren Rassismus weniger eindeutig; dennoch können sie rassistischen, verurteilungswürdigen Neigungen entspringen oder diese sogar noch verschärfen. So wurde beispielsweise Sheriff Joe Arpaio dafür schuldig gesprochen, eine gerichtliche Anordnung missachtet zu haben, die ihn an der gezielten Schikanierung von Menschen mexikanischer Abstammung hindern sollte: Das Justizministerium hatte herausgefunden, dass Lateinamerikanerinnen und -amerikaner von Arpaios Streifen vier- bis neunmal häufiger als Weiße kontrolliert wurden.14 In den Augen vieler hatte Arpaio bestimmte Gesetze gegen irregulären Aufenthalt dazu genutzt, Menschen mexikanischer Abstammung, gleich ob Bürgerinnen der USA oder nicht, zu schikanieren und auszugrenzen. Kurzum: Durch ihre Migrationspolitik können Gesellschaften ausdrücken, wer am Rande der Gesellschaft steht und wer nicht; mittels der Maßnahmen zur Kontrolle staatlicher Grenzen kann ausgedrückt werden, wer innerhalb dieser Grenzen von Bedeutung ist.15 Sogar die Idee der illegalen Einwanderung an sich kann dazu genutzt werden, Immigrantinnen den Status als Menschen abzusprechen. So ist es sicherlich kein Zufall, dass die in Europa und den USA so erfolgreichen populistischen Bewegungen dazu neigen, Immigrantinnen als Überträger von Krankheiten zu dämonisieren.16 In einer Vielzahl sozialer Kontexte können wir das Phänomen beobachten, dass Migration mit ethnischer Herkunft verbunden wird und in der Folge Immigrantinnen sowohl aufgrund ihrer ethnischen Herkunft als auch ihres Status als Immigrantinnen weniger Respekt zuerkannt wird. So beschreibt Swetlana Alexijewitsch die Worte eines tadschikischen Aktivisten wie folgt:

      „Zwei junge Tadschiken wurden mit einem Krankenwagen von einer Baustelle ins Krankenhaus gebracht. […] Sie lagen die ganze Nacht in der kalten Aufnahme, und niemand kümmerte sich um sie. Die Ärzte hielten mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg: „Was wollt ihr Schwarzärsche denn alle hier?“ […] Mit einem Polizeigeneral habe ich mich lange unterhalten. Er war kein Idiot, kein Kommisskopf, sondern ein gebildet wirkender Mann. ‚Wissen Sie‘, sagte ich zu ihm, ‚bei Ihnen arbeitet ein echter Gestapo-Mann. Ein richtiger Foltermeister, alle haben vor ihm Angst. Die Obdachlosen und Gastarbeiter, die ihm in die Hände fallen, macht er zu Invaliden.‘ […] Doch er sah mich nur an und lächelte. ‚Nennen Sie mir seinen Namen. Ein toller Mann! Wir werden ihn befördern, ihn auszeichnen … Wir machen die Bedingungen für euch hier absichtlich unerträglich, damit ihr möglichst schnell wieder verschwindet. In Moskau gibt es zwei Millionen Gastarbeiter, so viele Zugereiste kann die Stadt nicht verkraften. Ihr seid zu viele.‘“17

      Der Offizier ist ehrlicher als viele andere, aber ich vermute, dass der Kern seiner Auffassung – es gibt zu viele von euch hier – vielen Menschen nicht unvertraut ist, auch wenn sicherlich nur wenige bereit wären, auf dieser Grundlage Folter zu rechtfertigen. Eine vollständige Moraltheorie der Migration könnte uns allerdings mit den Mitteln ausstatten, die schlimmsten Versionen dieser Auffassung zu verstehen und zurückzuweisen; oder, sollte das fehlschlagen, uns Werkzeuge an die Hand geben, um unseren Widerspruch kundzutun.

      (5) – Migration und moralische Phänomenologie. Eine vollständige Moraltheorie der Migration würde nicht einfach nur theoretisch erörtern, wie wir politisch auf Immigrantinnen reagieren sollten; sie würde uns auch dazu befähigen, zu verstehen, was es heißt, ein Migrant zu sein und welche Bedeutung dieser Erfahrung der Migration aus Perspektive der Ethik zukommt.18 Eine Migrantin zu sein bedeutet, auf eine bestimmte Art und Weise Mensch zu sein: ein Mensch, der sich dem Aufbau eines neuen Lebens verschrieben hat, an einem neuen Ort, mit anderen, neuen Menschen. Jede neue Möglichkeit bringt es jedoch mit sich, dass eine andere Möglichkeit aufgegeben werden muss; und der Preis für ein neues Leben ist, dass das alte Leben mehr oder weniger aus dem Blickfeld verschwindet. Dieser Umstand erklärt, warum Abschiebungen tatsächlich so gewalttätig sind, wie sie uns erscheinen. In seiner Ablehnung der Alien and Sedition Acts von 1798 schrieb James Madison wortgewandt über die Bedeutung des Verlustes der eigenen Heimat:

      „Wenn die Ausweisung eines Fremden aus einem Land, das ihm ursprünglich unter Verheißung größten Glücks eine Zuflucht angeboten hat – ein Land, in dem er womöglich die zärtlichsten Verbindungen aufgebaut hat; ein Land, in dem er womöglich sein gesamtes Eigentum investiert und Eigentum der dauernden, beweglichen oder vorübergehenden Art erworben hat; ein Land, in dem er unter den Gesetzen einen größeren Anteil der Segnungen persönlicher Sicherheit und Freiheit genossen hat als er sich irgendwo sonst erhoffen konnte und wo er fast alle Voraussetzungen der Staatsbürgerschaft erfüllt hat … wenn eine solche Ausweisung keine Bestrafung, nicht eine der schlimmsten aller Bestrafungen, sein soll, so wird es schwierig, sich ein Verhängnis vorzustellen, das diesen Namen wirklich verdient.“19

      Daher schmerzen uns Abschiebungen, denn sie bedeuten den Verlust von etwas; einer Heimat, die vielleicht am besten als ein Teil des Selbst zu verstehen ist, das diese Heimat bewohnt. Durch Migration sind wir mit einer Situation konfrontiert, in der wir uns auf neue Weise mit den Mitgliedern unserer sozialen Welt auseinandersetzen müssen; und das mag wiederum erfordern, eine vollkommen neue Person zu werden – sowohl für andere als auch für uns. Während seines Exils in Belgien beschrieb Jean Améry diesen Umstand auf vortreffliche Weise. Was ist Heimat?, fragt Améry, und antwortet:

      „Heimat ist, reduziert auf den positiv-psychologischen Grundgehalt des Begriffs, Sicherheit. Denke ich zurück an die ersten Tage des Exils in Antwerpen, dann bleibt mir die Erinnerung eines Torkelns über schwankenden Boden. Schrecken war es allein schon, daß man die Gesichter der

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