Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake

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Zwischen Gerechtigkeit und Gnade - Michael  Blake

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wird nicht aufgrund von Gerechtigkeitserwägungen infrage gestellt, sondern lässt ihre Urheber unzureichend achtsam gegenüber jenen moralischen Werten erscheinen, die sie gerade aufgrund ihres Auftrags zur Ausgestaltung der öffentlichen Ordnung besonders ernst nehmen sollten. Ich glaube, dass es für Personen, die an politischer Ethik interessiert sind, Gründe gibt, bestimmte Formen politischer Kritik, die sich klar von Gerechtigkeitserwägungen unterscheiden, zu verteidigen; und ich glaube auch, dass die Idee der Gnade eine wichtige Tugend darstellt, die in die öffentliche Debatte um Migrationspolitik einbezogen und in ihr respektiert werden sollte. Wie ich zeigen werde, kann die Kategorie der Gnade in einer Vielzahl moralischer Theorien als eigenständiges Modul eingeführt werden. So finden sich ähnliche Ideen beispielsweise in der christlichen Ethik, der kantischen Hilfspflicht und der feministischen Care-Ethik. Das Konzept ist stark, sowohl rhetorisch als auch philosophisch, und für diejenigen unter uns, die eine ethische Reform der Migrationspolitik anstreben, kann es daher auch im öffentlichen Diskurs von Nutzen sein. Der zweite, umstrittenere Grund für die Einführung dieser Idee besteht darin, dass anhand des Konzepts der Gnade auch solche politischen Maßnahmen verteidigt werden können, die auf Forderungen der Gerechtigkeit beruhen. Es gibt viele Wege, das Bösartige an bestimmten Formen der Migrationspolitik zu beschreiben und es gibt Konstellationen, in denen die Sprache der Gnade sich als stärker erweist denn die bisweilen trockene Sprache der Gerechtigkeit.

      Manche Menschen werden vielen der hier angestellten Überlegungen ablehnend gegenüberstehen. Als ich die Idee der Gnade das erste Mal vortrug, kam die erste Frage von einer Zuhörerin, die das Konzept selbst als ehrverletzend ansah: Sie würde eher für Gerechtigkeit kämpfen, als um Gnade zu betteln. Diese Reaktion ist nicht vollkommen falsch. So ist beispielsweise das Konzept der Gnade in jenen Fällen der falsche Ausgangspunkt, in denen eine bestimmte Politik deshalb abgeschafft werden sollte, weil sie ungerecht ist. Diejenigen, die gegen Jim Crow26 kämpften, hätten ihre Forderungen wohl kaum in Form eines Gnadengesuchs vorgebracht. (Und wenn diejenigen, die den Civil Rights Act von 1964 erlassen haben, diesen Akt unter Berufung auf die Idee der Gnade rechtfertigen, halten wir das entsprechend für leicht obszön.)27 Hierauf kann ich bloß zwei Antworten geben. Die erste lautet, dass der Diskurs der politischen Ethik verarmt, wenn wir unsere Auseinandersetzungen allein in der Sprache der Gerechtigkeit führen. Sofern der liberale Staat ein gewisses Recht hat, ungebetene Immigrantinnen auszuschließen, wofür ich argumentiere, könnten wir Bedarf an einem ethischen Diskurs haben, der uns dabei hilft, zu verstehen, wie wir am besten mit der aus diesem Recht resultierenden Freiheit umgehen sollten. Darauf zu bestehen, dass der Kampf für Gerechtigkeit der einzig gangbare Weg ist, würde bedeuten, die wundervolle Komplexität unseres ethischen Vokabulars zu ignorieren. Meine zweite Erwiderung lautet, dass es manchmal nicht darum geht, was wir gerne tun würden, sondern darum, was letztlich effektiv ist. Mitunter sollten wir die Frage danach, was Gerechtigkeit verlangt, von der Frage unterscheiden, wie wir andere von einer gerechten Politik überzeugen können. Die Idee der Gnade, so mein Argument, kann uns sowohl dabei helfen die Ethik der Migrationspolitik zu verstehen, als auch dabei, eine gerechte Politik in einem zunehmend völkisch und feindselig gesinnten politischen Gemeinwesen zu befördern.

      Einige werden sicherlich weitaus mehr als das Konzept der Gnade ablehnen. Manche werden die Frage stellen, ob es überhaupt Staaten oder Grenzen geben sollte.28 Auf diese Art von Einwänden möchte ich auf zwei Weisen reagieren. Die erste Reaktion ist begrifflicher Natur: das Konzept der Einwanderung ergibt in meinen Augen bloß vor dem Hintergrund des modernen, westfälischen Staatensystems einen Sinn. Als ich von Boston nach Seattle zog, bin ich nicht migriert – ganz im Gegensatz zu meinem Umzug von Kanada in die Vereinigten Staaten. So wie ich den Begriff in diesem Buch verstehe und benutze, verlangt Migration das Übertreten von Grenzen souveräner Staaten, weshalb es die Existenz souveräner Staaten voraussetzt. Nicht alle Verwendungen dieses Konzepts beinhalten diese Implikation. So beginnt Michael Fishers Geschichte der Migration mit der Beschreibung von Gudrid dem Wanderer, der sich 1002 unserer Zeitrechnung auf dem Gebiet des heutigen Kanadas „als ein Immigrant aus Island“ niederließ.29 Meiner Meinung nach ergibt es allerdings nur dann Sinn, ein Immigrant aus Island zu sein, wenn es ein Island gibt, weshalb die Existenz als Immigrant die Existenz von Staaten wie Island voraussetzt. Daher werde ich für den Zweck des vorliegenden Buches annehmen, dass das System der Staaten, oder etwas ihm sehr ähnliches, als Hintergrund unserer normativen Diskussion bis auf Weiteres erhalten bleibt. Der zweite Grund für meine Ablehnung solch radikaler Überlegungen ist hingegen eher philosophischer Natur: Ich verstehe mich als einen institutionellen Konservativen – was sich, wie ich gleich anmerken sollte, recht deutlich von einem reinen Konservativen unterscheidet.30 Der institutionelle Konservative beginnt mit den Institutionen, die er oder sie vorfindet, und fragt danach, wie diese beschaffen sein müssten, um gerechtfertigt werden zu können. Eine solche Position unterscheidet sich stark vom Bestehen darauf, dass die gegenwärtigen Institutionen bereits gute oder angemessene Arbeit leisten. Sie unterscheidet sich auch davon, zu fragen, welche Institutionen wir haben könnten, würden wir sie noch einmal von Neuem errichten. Der Grund für meine Ablehnung der letzten Position ist einfach: Sofern wir das Vorgefundene den Forderungen der Gerechtigkeit entsprechend verändern können, sollten wir auch entsprechend handeln – wobei dieses sollte seine Kraft sowohl aus den konzeptionellen Schwierigkeiten eines vollkommenen Neuaufbaus dieser Institutionen, als auch aus den praktischen Problemen revolutionärer Umwälzungen zieht.31 Sollte diese Aufgabe jedoch hoffnungslos sein – wenn unsere vorhandenen Institutionen also nicht an die Forderungen der Gerechtigkeit angepasst werden könnten –, dann haben wir gute Gründe dafür, zu radikaleren Lösungen zu greifen. In diesem Buch werde ich jedoch schauen, ob diese radikaleren Lösungen, zumindest prinzipiell, nicht doch vermieden werden können.

      An diesem Punkt möchte ich jedoch einige Schwierigkeiten der mir selbst auferlegten Aufgabe einräumen. Das erste Problem besteht in meiner Identität: Ich bin zwar ein Migrant, aber, wie ich bereits sagte, ein ziemlich privilegierter Migrant. Ich wurde in eine relativ wohlhabende Gesellschaft geboren und bin in eine andere recht wohlhabende Gesellschaft eingewandert. Sollte Améry Recht haben, ist jeder Emigrant zu einem gewissen Grad vulnerabel, allerdings war und bin ich aufgrund meines relativen Wohlstands und meiner sozialen Identität weit weniger vulnerabel als andere. Ich erwähne diese Umstände, da die Ideen, von denen ich hoffe, dass sie viele Leserinnen und Leser motivieren, von einer bestimmten Person kommen und daher wohl sehr wahrscheinlich, auf für mich unvorhersehbare Weise, die Besonderheiten meiner Situation widerspiegeln. Darüber hinaus muss ich anerkennen, dass ich innerhalb eines von amerikanischen und europäischen Stimmen dominierten Diskurses schreibe. Mein Text wendet sich an Akademiker und Akademikerinnen innerhalb einer von Akademikern und Akademikerinnen gebildeten diskursiven Agenda und ich muss einräumen, dass die Menschen, auf deren Überlegungen ich hier antworte, ebenfalls als eher privilegiert zu bezeichnen sind. All dies erwähne ich, da ich überzeugt davon bin, dass der von uns gestaltete Dialog sehr stark von Inklusion, gleich welcher Art, profitieren würde. Zumindest wären die Argumente dieses Buches besser, wären sie jener Art von kritischer Auseinandersetzung ausgesetzt, die in unserem philosophischen Kosmos bloß schwerlich entsteht. Was ich hier sage, soll daher höchstens als ein Beitrag zu aktuellen Debatten über die Moral der Migration verstanden werden und ist ausdrücklich nicht darauf ausgerichtet, diese Debatten zu beenden.

      Zum Schluss möchte ich noch auf einige Grenzen der vorliegenden Untersuchung eingehen. Der Fokus liegt auf Einwanderung, unter der ich die Überquerung einer internationalen Grenze zu einem anderen Land verstehe, die mit der Absicht eines zeitlich unbegrenzten Aufenthalts in eben jenem Land einhergeht. Durch diesen Fokus werde ich einige ziemlich wichtige politische Themen nicht oder nur am Rande behandeln. So werde ich beispielsweise nicht auf die Möglichkeit einer partiellen Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft eingehen, sei sie begrenzt im Hinblick auf die Rechte der Immigrantinnen oder die zeitliche Dauer ihres Aufenthalts.32 Auch die schwierige Frage nach den Bedingungen des Übergangs von einer solch partiellen zu einer vollen Mitgliedschaft als Bürgerin werde ich nicht behandeln, also beispielsweise die Frage, ob Einbürgerungstests illiberal sind oder durch die legitimen Interessen des liberalen Staates gerechtfertigt werden können.33 Und in diesem Zusammenhang: Welche Arten von Integrationsbemühungen können berechtigterweise von einer Person erwartet werden,

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