Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake
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Die Emigration verlangt den Aufbau eines neuen Selbst und auch wenn viele Menschen freiwillig auswandern, sollte doch stets bedacht werden, dass dieser Prozess schmerzhaft ist und notwendigerweise tiefgreifende Verluste mit sich bringt. Im Falle der unfreiwilligen Emigration sollten wir darüber hinaus auch den Grund der Auswanderung nicht aus den Augen verlieren und nicht vergessen, dass dieser Verlust durch einen anderen Akteur veranlasst wurde, der meint, ein solcher Verlust sei erträglicher als weiterhin in Gemeinschaft mit dem zur Emigration Gezwungenen zu leben. Wie ich zeigen werde, ist eine Abschiebung nicht immer moralisch falsch; aber sie bedeutet immer die teilweise Vernichtung dessen, was die Abgeschobenen aus ihrem Leben gemacht haben. Es ist daher kein Zufall, dass Abschiebung metaphorisch oft mit Auslöschung in Verbindung gebracht wird. Der Völkermord an den Armeniern begann mit der Verkündung des Tehcir-Gesetzes, das die Abschiebung von Armeniern erlaubte, die in „Spionage gegen den Staat“ verwickelt waren.21 Ganz ähnlich beschrieb die Wannsee-Konferenz den systematischen Mord an den Juden durch die euphemistische Formulierung nach dem Osten transportiert.22 Eine umfassende Betrachtung der Moralität der Migration würde, so ist zu hoffen, uns dazu befähigen, zu verstehen, was bei der Migration auf dem Spiel steht: was in der Emigration verloren geht, was verloren geht, wenn sie unterbleibt, und wie wir die moralische Bedeutung der gewaltsamen Abschiebung aus der eigenen Heimat verstehen können.
Eine vollständige Betrachtung der durch Migration aufgeworfenen moralischen Probleme würde uns mit den Werkzeugen ausstatten, die für ein Verständnis all dieser Aspekte und ihres Verhältnisses zueinander vonnöten sind. Ein solches Unterfangen würde eine umfassende Analyse der komplexen Wege erfordern, auf denen das gemeinsame Vermächtnis von Gewalt und Gräuel unsere Welt sowohl in der Vergangenheit geformt hat als auch heute noch formt. Ich betrachte es als unwahrscheinlich, dass eine solche Theorie jemals entwickelt wird – ich bin mir allerdings sicher, dass, sollte eine solche Theorie demnächst veröffentlicht werden, sie nicht von mir stammen wird. In diesem Buch versuche ich etwas Bescheideneres. Ich möchte nur zwei Ziele verfolgen und dabei gebührend anerkennen, dass die damit verbundenen Überlegungen uns nur mit einem Teil der moralischen Erläuterungen versorgen, die wir benötigen.
Der erste Teil meines Vorhabens besteht darin, die in meinen Augen beste Rechtfertigung für ein staatliches Recht auf den Ausschluss von Migrantinnen darzulegen. Meiner Meinung nach muss diese Rechtfertigung vorgebracht worden sein, bevor eines der von mir beschriebenen spezifischeren moralischen Probleme adäquat analysiert werden kann. Wenn ein Staat manche Menschen daran hindern möchte, sein Territorium zu betreten, wird dieser Staat eine Erklärung dafür vorbringen müssen, warum er dazu berechtigt ist. Ich möchte in diesem Buch eine mögliche Version einer solchen Erklärung vorlegen – eine, von der ich glaube, dass sie gute Chancen hat, mit jenen Idealen der Gerechtigkeit im Einklang zu stehen, die die liberale politische Philosophie mit Leben füllen. Ihren Ausgang nehmen meine Überlegungen von Annahmen, die ich, wenn auch nicht als unkontrovers, so doch als potentiell allgemein attraktiv ansehe und aus denen ich im weiteren Verlauf einen spezifischen Ansatz für die Rechtfertigung eines staatlichen Rechts auf Ausschluss abzuleiten versuche. Das Verständnis dieses Ansatzes kann uns meiner Meinung nach bei der Navigation durch die schwierigen Gewässer der öffentlichen Debatte über Migration in liberalen Gemeinwesen helfen. Mein Vorschlag wird sowohl ein Recht auf Ausschluss rechtfertigen, als auch – gleich bedeutsam – die Grenzen dieses Rechts aufzeigen; es gibt demnach Menschen, deren Ausschluss ungerechtfertigt ist und Gründe, die nicht zur Rechtfertigung eines Ausschlusses angeführt werden können. Das Verständnis dessen, was die von mir vorgeschlagenen moralischen Ausführungen nicht erlauben, ist genauso wichtig wie das Verständnis dessen, was sie erlauben. Doch selbst wenn ich hinsichtlich dieser Aufgabe erfolgreich sein sollte, werde ich nur einen Teil des komplexen Gegenstands der Migration erfasst haben. Was ich hier sage, kann prinzipiell von bestimmten anderen Faktoren übertrumpft zu werden – so mag die individuelle Geschichte eines Landes es uns mitunter erlauben, zu zeigen, dass in einem bestimmten Fall verboten ist, was für gewöhnlich erlaubt sein mag. Auf diese Weise hat Michael Walzer gezeigt, dass die Vereinigten Staaten kein Recht haben, diejenigen zurückzuweisen, die durch die amerikanische Invasion in Vietnam zu Flüchtlingen wurden: Die militärische Geschichte der USA hatte sie „de facto bereits amerikanisiert, ehe sie die Küsten Amerikas erreichten.“23 Walzer zufolge haben politische Gemeinschaften das Recht, eine Vielzahl von Personen auszuschließen – aber aufgrund ihrer Geschichte können sie dieses Recht verlieren, zumindest mit Blick auf bestimmte Personen. Mein Ansatz ist offen für derlei Überlegungen, obwohl ich hinsichtlich ihrer theoretischen Grundlagen einige Bedenken habe.24 Im Folgenden werde ich mich jedoch hauptsächlich auf das Recht auf Ausschluss und seine Beschränkungen fokussieren und mir die Bedenken über die Umstände, unter denen dieses Recht ungültig sein könnte, für eine andere Gelegenheit aufheben. Diese Entscheidung soll nicht bedeuten, dass solche, an partikularen Fällen orientierte Argumente von geringerer Bedeutung sind; vielmehr denke ich, dass sie oftmals genauso wichtig sind wie das umfassende moralische Recht auf Ausschluss, gegen das sie ins Feld geführt werden. Meine vorliegende Aufgabe besteht jedoch darin, dieses Recht zu verstehen, da dieses Verständnis eine wichtige Vorstufe für die daran anschließende, umfassendere moralische Analyse darstellt.
Der zweite Teil dieses Buches wird über die Idee der Gerechtigkeit hinausgehen und einen Raum für die Anwendung alternativer moralischer Konzepte im Bereich der Migrationspolitik eröffnen. Unsere Diskussionen über Migration werden häufig unter Bezug auf konkurrierende Gerechtigkeitsideale geführt. Uneinigkeit über die moralischen Fragen der Migration beruht in diesen Fällen auf der Uneinigkeit darüber, welche Personen welche Rechtsansprüche gegenüber bestimmten sozialen Institutionen geltend machen können. Diese Debatten – sowohl in der Politik als auch der Philosophie – sind wichtig und werden wahrscheinlich auch in der näheren Zukunft fortbestehen. Aber sie sind unvollständig. Im alltäglichen Leben können wir schreckliche Menschen sein, ohne dabei jemals aktiv irgendwelche Rechte zu verletzen. Wir können grausam, hartherzig, bösartig, kleinlich und so vieles mehr sein – ohne dabei notwendig etwas zu tun, was berechtigterweise als ungerecht bezeichnet werden kann. Ich werde in diesem Buch auf das Konzept der Gnade zurückgreifen, um die spezifische moralische Tugend zu erfassen, die besagt, dass wir mehr tun müssen, als bloß die Verletzung von Gerechtigkeitspflichten zu vermeiden. Eine Person, die nicht im Sinne der Gnade handelt, fügt keiner anderen Person irgendein Unrecht zu – zumindest nicht aus dem Blickwinkel der Gerechtigkeit – aber es kann ihr dennoch vorgeworfen werden, ein schlechtes moralisches Vorbild zu sein. Wie Jeffrie Murphy schreibt:
„Die Tugend der Gnade zeigt sich, wenn eine Person, aus Mitgefühl für die schwierige Lage einer bei ihr in der Schuld stehenden Person, auf das mit dieser Schuld verbundene Recht verzichtet und sie somit von dieser Verpflichtung und der mit ihr verbundenen Last befreit. Menschen, die stets und ohne Rücksicht auf die Folgen ihrer Handlungen für andere auf ihrem Recht bestehen, sind schlicht unerträglich. Solchen Personen kann zwar nicht vorgeworfen werden, dass sie ungerecht handeln, aber Vorwürfe können ihnen in jedem Fall gemacht werden.“25
In den späteren Kapiteln möchte ich diese Ideen nicht einfach nur im Hinblick auf Personen, sondern auch hinsichtlich der Politik untersuchen. Ich werde zeigen, dass ein Staat selbst dann moralisch kritisiert werden kann, wenn er nicht gegen Gerechtigkeitsnormen verstößt, nämlich wenn er es nicht schafft, durch sein Handeln die Tugend der Gnade angemessen zu demonstrieren. Staaten sind, wie auch Individuen, nicht einfach nur dazu verpflichtet, Rechte zu achten, sondern auch anteilnehmend für andere Personen zu handeln – und zwar unabhängig davon, ob diese Personen aus der Idee der Gerechtigkeit ein Recht auf jene Anteilnahme ableiten können. Ich glaube, dass diese Art von Tugend aus mindestens zwei Gründen eine bedeutende Ergänzung zur Gerechtigkeitsdebatte im Bereich der Migration darstellt. Der erste Grund besteht darin, dass es Fälle zu geben scheint, in denen bestimmte Aspekte der Migrationspolitik