Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake
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Der letzte Orientierungspunkt, den ich hervorheben möchte, ist womöglich der wichtigste: Es gibt Personen, in deren Fall die meisten von uns glauben, dass ein Recht auf Einwanderung besteht. Der gegenwärtige Rechtsbegriff des Flüchtlings entwickelte sich aus dem Grauen des Zweiten Weltkriegs und der daran anschließenden Scham vieler Staaten über die Zurückweisung derjenigen, die den mörderischen Intentionen des Nazi-Regimes zu entfliehen versucht hatten.19 Wir können und sollten uns fragen, wer genau zum Schutz unter dem Abkommen berechtigt ist, das die Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts bildet; ich werde diese Frage in Kapitel sieben behandeln. Aber ich denke, die Abscheu gegenüber der Entscheidung der Vereinigten Staaten, die Flüchtlinge der St. Louis zurückzuweisen, sollte uns in diesem Fall eine Lehre sein.20 Bestimmte Gruppen von Menschen haben gewiss das Recht, vor bestimmten Formen von Grausamkeit und Übeln geschützt zu werden und eine Theorie der Gerechtigkeit der Migration, die diese Tatsache nicht anerkennen möchte, wäre bereits alleine aufgrund dieses Mangels abzulehnen. Der Flüchtling hat ein Recht auf Zuflucht und wir können sagen, dass die Verweigerung dieses Recht einer unfairen Behandlung gleichkommt – die Sprache der Gerechtigkeit erlaubt es uns, einen solchen Anspruch festzustellen.
Diese Orientierungspunkte setzen unserer Diskussion über die Gerechtigkeit der Migration also einige Schranken. Allerdings bieten sie uns nicht viel. Wir benötigen noch mehr Orientierungshilfen, um die abstrakte Idee der Gerechtigkeit auf das Gebiet der Migration anwenden zu können. Denn was ich bisher dargelegt habe, bietet uns zwar einige Überlegungen hinsichtlich dessen, was wir nicht sagen können – es bietet uns allerdings sehr wenig hinsichtlich der Bestimmung dessen, was wir sagen könnten.
Ein Großteil dieses Buches wird versuchen, eine bestimmte Vorstellung der Gerechtigkeit für den Bereich der Migration zu entwickeln. Mit ihr soll zugleich ein Ansatz ausgearbeitet werden, um die Freiheiten von Staaten im Hinblick darauf zu bestimmen, welche Migrantinnen sie einlassen oder aber ausschließen dürfen. Diese Vorstellung zu entwickeln bildet den Gegenstand der folgenden drei Kapitel. Beginnen möchte ich die Aufgabe in diesem Kapitel jedoch damit, dass ich zunächst diejenigen Theorien der Gerechtigkeit der Migration untersuche – und schließlich widerlege –, die gegen jegliches Recht auf Ausschluss ungebetener Migrantinnen argumentieren. Für diese Theoretikerinnen, die oftmals als Verteidiger offener Grenzen bezeichnet werden, gleicht der Versuch, ein gerechtes System des Ausschlusses zu entwickeln, dem Vorhaben, ein gerechtes System der Rassentrennung auszuarbeiten: Ein solches Vorhaben ist zwar nicht hoffnungslos, aber so etwas wie ein Widerspruch in sich.
Die theoretischen Verteidiger offener Grenzen vertreten die extreme Version einer Seite der bereits weiter oben dargestellten Dialektik. Viele der Menschen, die davon abgestoßen waren, wie die Trump-Administration Immigrantinnen behandelt, haben versucht, diese als rassistisch und völkisch wahrgenommene Migrationspolitik zurückzuweisen. Nicht alle von ihnen glauben, dass Grenzen offen sein sollten. Viele sind einfach der Meinung, dass die Trump-Administration die Grenzen auf falsche Art und gegenüber den falschen Menschen schließt. Der Glaube, dass es Beschränkungen dessen gibt, wie der Staat an seinen Grenzen handeln darf, ist nicht identisch mit dem Gedanken, dass diese Grenzen offen sein sollten – obwohl die Trump-Administration oft versucht hat, jeglichen Widerstand gegenüber ihren migrationspolitischen Maßnahmen als Verteidigung offener Grenzen darzustellen. Die Befürwortung offener Grenzen ist also nicht die einzige Möglichkeit, dem populistischen Ansatz der Migrationspolitik etwas entgegenzusetzen. Tatsächlich findet sich gegenwärtig kaum ein politischer Akteur, der bereit wäre, die Möglichkeit offener Grenzen zu verteidigen. Nichtsdestotrotz ist der Gedanke, dass Staaten niemanden zu Recht ausschließen können, eine genauere Betrachtung wert. Sollte diese Idee erfolgreich verteidigt werden können, hätten wir gute Gründe, die scheinbar unvermeidlichen Einwanderungskontrollen infrage zu stellen. Wie Joseph Carens bemerkt, sollten wir uns nicht von der Tatsache abschrecken lassen, dass uns offene Grenzen in der gegenwärtigen Welt als unmöglich erscheinen, denn eine Welt ohne Sklaverei erschien einstmals ebenso fantastisch.
Wo aber sollten wir mit der Verteidigung des Gedankens, dass Grenzen offen sein sollten, beginnen? In meinen Augen sollten wir uns durch den Begriff der Gerechtigkeit selbst inspirieren lassen. Laut Rawls verträgt sich Gerechtigkeit nicht mit willkürlichen Unterscheidungen, insbesondere dann nicht, wenn dadurch die grundlegenden Rechte und der materielle Besitz einzelner Personen betroffen sind. Wir könnten also meinen, dass die Praxis des Ausschlusses in beiden Hinsichten problematisch ist. Wenn die Vereinigten Staaten einer Migrantin aus einem relativ armen Land die Aufnahme verweigern, verurteilen sie diese Person zu einem Leben ohne denjenigen Wohlstand, der oft (wenn auch nicht immer) Teil des US-amerikanischen Lebens ist. Wenn sie die Aufnahme einer Person verweigern, die unter einem repressiven Regime lebt, verurteilen sie diese Person zu einem Leben ohne politische Freiheit. Wenn sie es einer Person, die zu migrieren versucht, versagen, ein von ihr gewähltes Projekt oder eine von ihr gewählte Beziehung in den Vereinigten Staaten zu verfolgen, beschränken sie die Möglichkeiten dieser Person, ein wertvolles Leben für sich und ihre Nächsten aufzubauen. Zudem tun die Vereinigten Staaten all das aufgrund einer Grenze, die aus einem moralischen Blickwinkel selbst als willkürlich erscheint; niemand hat es verdient, auf der „richtigen“ Seite einer bestimmten, auf dem Boden gezogenen Linie geboren zu werden. Darüber hinaus repräsentiert diese Linie nicht nur einfach materielle Ungleichheit, sondern auch eine Geschichte von Gräueln und kolonialer Ausbeutung: Viele der gegenwärtigen Zurückweisungen an der Grenze bestehen darin, dass ehemalige Kolonialmächte Menschen aus verarmten ehemaligen Kolonien die Einwanderung verweigern.21 Wir könnten, einfach anhand dieser Gedanken, eine Vorstellung der Migrationsgerechtigkeit entwerfen, in der alle Formen von Ausschluss mutmaßlich ungerecht sind. In seiner Zurückweisung aller Versuche, ein Recht auf Ausschluss zu rechtfertigen, bietet uns Chandran Kukathas eine anschauliche kleine Skizze der Möglichkeiten eines Arguments für offene Grenzen:
„Wie also können Einschränkungen der Einwanderung, oder, allgemeiner, der Bewegungsfreiheit, gerechtfertigt werden? Es ist nicht leicht, solche Beschränkungen aus der Perspektive von Individuen oder Völkern allgemeingültig zu verteidigen. […] Ein Argument für die Beschränkung individueller Bewegungsfreiheit wird immer auch ein Argument sein, weshalb eine bestimmte (manchmal begünstigte) Gruppe dabei geschützt werden sollte, die Renten zu genießen, die sie sich durch das große Glück gesichert hat, in einem bestimmten Teil der Welt statt einem anderen zu leben.“22
Dieses breit angelegte Argumentationsmuster führt also an, dass der Gedanke eines (potentiell) gerechtfertigten Systems staatlichen Ausschlusses eine Illusion sei, denn das Ziel aller liberalen Theoretikerinnen sollte es sein, jegliche Formen ungerechtfertigter Hierarchien niederzureißen – und die Struktur des Aufenthaltsrechts, die manche Menschen von manchen Orten ausschließt, könnte schlicht eine solche Form ungerechtfertigter Hierarchien darstellen. Ich denke, dass die Idee offener Grenzen in diesem Sinne einfach als eine Ausweitung des umfassenderen Systems von Bürgerrechten verstanden werden kann. Wie bereits Roger Nett vor einer Generation argumentierte, könnte es sich bei dem letzten Bürgerrecht – das vermutlich am schwierigsten durchzusetzen sei – um das Recht handeln, sich frei über die Erdoberfläche bewegen zu dürfen.23
Ich möchte im weiteren Verlauf dieses Kapitels nun vier spezifischere Versionen des Arguments für offene Grenzen diskutieren. Dabei handelt es sich weniger um einzelne Argumente, als vielmehr um Gruppen von Argumenten, die Möglichkeiten darstellen, das skizzierte Argument gegen staatlichen Ausschluss genauer und rigoroser zu formulieren. Wie ich bereits bemerkt habe, bin ich nicht der Meinung, dass diese Argumente überzeugend sind. Mein Widerspruch beginnt damit, wie die verschiedenen Argumente die besondere Beziehung begreifen, die zwischen einem mit Zwangsbefugnissen