Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake

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Zwischen Gerechtigkeit und Gnade - Michael  Blake

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die Argumente für offene Grenzen einfach ausgedrückt dazu, die besonderen Verpflichtungen zu ignorieren, die Staaten gegenüber denjenigen haben, die in direkter Reichweite der staatlichen Zwangsbefugnis ihr Leben fristen. Sie tendieren darüber hinaus zu der Überzeugung, dass jegliches Bürgerrecht zugleich auch ein Menschenrecht sein sollte. Im Folgenden werde ich versuchen, sowohl meinen Dissens mit diesen Theoretikerinnen herauszuarbeiten, als auch den Verdienst, den sie an der Formulierung meines eigenen Ansatzes haben. In meinen Augen besteht ein zu großer Teil der Philosophie darin, die Fehler anderer aufzuspüren und eine theoretische Abhandlung ist immer dort am schwächsten, wo sie auf die Lücken anderer Ansätze verweist.24 Was ich hier vorbringe, soll daher nicht als Demonstration einer einwandfreien Widerlegung der verschiedenen Positionen für offene Grenzen verstanden werden – für solch ein Vorhaben sind diese Argumente sowohl zu komplex als auch zu gut. Vielmehr handelt es sich höchstens um die Darstellung von Überlegungen, aufgrund derer ich die verschiedenen Argumente nicht akzeptieren kann und das trotz der Schuld, in der ich bei ihren Urhebern stehe.

      1. Gerechtigkeit und Ausschluss

      Wie also können wir den Gedanken, dass ein Staat kein Recht darauf hat, ungebetene Einwanderer auszuschließen, präziser fassen? Ich sollte nebenbei anmerken, dass die von mir diskutierten Autoren oft bereit sind zu akzeptieren, dass ein Staat das Recht hat manche Personen auszuschließen – so beispielsweise diejenigen, die vorhaben, dem Staat oder seinen Einwohnerinnen zu schaden. Allerdings argumentieren sie dann, dass das Recht auf das Überqueren internationaler Grenzen sehr ähnlich dem Recht sei, sich innerhalb von Staaten zu bewegen oder sehr ähnlich dem Recht, seine Religion frei auszuüben: Abstrakt betrachtet ist es möglich, diese Rechte einzuschränken, allerdings nur in wirklich furchtbaren (und, so wird gehofft, untypischen) Situationen. Im allgemeinen Fall jedoch, in der eine Person Staatsgrenzen einfach aus denselben Gründen überqueren will, die sie auch dazu motivieren könnten, sich innerhalb dieser Grenzen zu bewegen, behandelt der Staat eine Person diesen Autoren zufolge ungerecht, wenn er sie von eben dieser Überquerung abhält. Was kann zur Unterstützung des Gedankens ins Feld geführt werden, dass der Begriff der Gerechtigkeit eine solche Form des Ausschlusses verurteilen sollte?

      Die vier von mir diskutierten Versionen eines möglichen Beweises bezeichne ich als die Argumente der Willkürlichkeit, der Verteilungsgerechtigkeit, der Kohärenz mit bestehenden Bewegungsrechten und der Zwangsgewalt. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Argumenten sind allerdings eher durchlässig; so könnten diejenigen, die eine Art dieser Argumente vorbringen, auch zugleich all die anderen anführen. Allerdings werde ich die unterschiedlichen Positionen zum Zwecke der analytischen Klarheit als eigenständige Argumente diskutieren und versuchen, jedes möglichst vorteilhaft darzustellen. All diese Ansätze haben eine ähnliche Struktur: Sie nutzen die groben Umrisse des bereits dargestellten Gerechtigkeitsbegriffs um zu zeigen, dass der ausschließende Staat die durch ihn Ausgeschlossenen dadurch in ihren Rechten verletzt, dass er sie unfair behandelt. Zudem verwenden sie häufig eine ähnliche Strategie: Ihnen zufolge unterstützen die Normen und Prinzipien, die wir bereits als Teil liberaler Gerechtigkeit anerkennen, den Gedanken, dass ein moralisches Recht auf freien Grenzübertritt zu Recht als Teil des Liberalismus betrachtet wird. Somit haben all diese Überlegungen ein gewichtiges Argument: Menschen als gleichwertig und mit Respekt zu behandeln bedeutet, sie nicht gewaltsam davon abzuhalten, an den Ort ihrer Wahl zu gelangen.25

      1.1 Willkürlichkeit

      Eine Möglichkeit, für offene Grenzen zu argumentieren, beruht schlicht auf dem, was bereits weiter oben erwähnt wurde: Grenzen sind demnach unter moralischen Gesichtspunkten willkürlich, da sie im Allgemeinen eher die gemeinsame Vergangenheit kolonialer Gewalt denn irgendetwas von moralischer Bedeutung repräsentieren. Sie sind selbstverständlich auch in der Hinsicht willkürlich, dass niemand behaupten könnte, er habe es in irgendeinem bedeutsamen Sinne verdient, auf der begünstigten Seite einer Grenze geboren worden zu sein. Das weiter oben angeführte Zitat von Chandran-Kukathas stellt einen Ausdruck dieses Gedankens dar: Wenn es den derzeitigen Einwohnerinnen eines Ortes erlaubt ist, ungebetene Immigrantinnen auszuschließen, fungiert der Zufall des Geburtsortes als Grundprinzip der Verteilung von Rechten. Joseph Carens’ frühes Werk zu diesem Thema zieht eine Parallele zwischen der Staatsbürgerschaft in einem reichen, attraktiven Staat und den Privilegien, die im Feudalismus mit der Geburt verbunden waren: „ein vererbter Status, der die Lebenschancen massiv verbessert.“26 Das Argument der Willkürlichkeit hängt jedoch nicht von materiellen Ungleichheiten ab oder davon, dass ein Staat wohlhabender als andere Staaten ist. Diesem Argument zufolge genügt bereits die Tatsache willkürlicher Unterschiede in der Verteilung von Rechten – Ihnen ist es aufgrund ihres Geburtsortes oder ihrer Eltern erlaubt, in Deutschland zu leben, mir nicht – um die Überzeugung zu rechtfertigen, dass Ausschluss ungerecht sei.

      Carens ist nicht allein mit dem Gedanken, dass bereits die Willkürlichkeit von Staatsgrenzen den Ausschluss von Migrantinnen als ungerecht ausweist. Philip Cole argumentiert auf ganz ähnliche Weise, dass Liberale nicht meinen können, das Recht auf Ausschluss stünde im Einklang mit der liberalen Vorstellung von Gerechtigkeit. Cole geht sogar insofern weiter als Carens, als dass er meint, die Willkürlichkeit von Staatsgrenzen könnte uns dazu zwingen, die Vorstellung liberaler Gerechtigkeit an sich zu überdenken:

      „Wie wir sehen werden, geben viele Autoren zu, dass der Liberalismus exklusive Mitgliedschaften prinzipiell und Einschränkungen der Einwanderung praktisch ablehnen sollte, und zwar aufgrund seiner Verpflichtung gegenüber der moralischen Gleichwertigkeit aller Menschen als solche und der daraus resultierenden Abscheu gegenüber willkürlichen Unterscheidungen zwischen ihnen. Aber angesichts dieses Eingeständnisses fahren sie damit fort, eine Rechtfertigung für den Ausschluss von Migrantinnen zu suchen, oftmals auf der Basis des Gedankens, dass es möglich sein muss, eine von liberal-demokratischen Staaten so weitgehend akzeptierte Praxis zu rechtfertigen. Aber wie wir sehen werden, stellt ein solches Unterfangen die liberale Theorie vor besondere Probleme. Der Zweck dieses Buches ist es, diese Probleme zu untersuchen.“27

      Coles Analyse zufolge begründet die Willkürlichkeit von Staatsgrenzen den Schluss, dass die Praxis staatlichen Ausschlusses ungerechtfertigt ist. Die Tatsache, dass wir nicht bereit sind, diesen Schluss zu akzeptieren, ist für Cole Beweis dafür, dass wir vielleicht eher einer neuen Form der Debatte bedürfen – nicht nur über Grenzen, sondern über politische Gerechtigkeit im weiteren Sinne.

      1.2 Verteilungsgerechtigkeit

      Das soeben dargestellte Argument gewinnt offensichtlich an Stärke, wenn anerkannt wird, dass Staatsgrenzen nicht nur Bürgerinnen und Migrantinnen trennen, sondern oft auch wohlhabende von armen Menschen. Der Gedanke, dass die Zurückweisung von Migrantinnen nicht nur in sich falsch ist, sondern auch, weil sie die distributiven Rechte der Armen dieser Welt untergräbt, bildet die Grundlage für ein weiteres, starkes und wichtiges Argument gegen ein Recht auf Ausschluss. Seine Begründung kann allerdings zwei verschiedene Formen annehmen: Sie kann zum einen auf Überlegungen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit, zum anderen auf Überlegungen der Chancengleichheit beruhen.

      Das Argument der wirtschaftlichen Gerechtigkeit führt die schlichte Tatsache globaler wirtschaftlicher Ungleichheit an und zeigt, wie verschiedene Arten des Ausschlusses potentieller Migranten durch die reicheren Länder Nordamerikas und Europas dazu tendieren, diese ungleiche Verteilung des globalen Wohlstands zu verstärken. Dieses Argument kann durch Prognosen hinsichtlich möglicher Wohlstandsgewinne durch offene Grenzen weiter verstärkt werden. Wie Michael Clemens gezeigt hat, könnte die Abschaffung staatlicher Grenzen wirtschaftliche Gewinne vom anderthalbfachen Umfang des gegenwärtigen globalen Bruttoinlandsprodukts schaffen.28 Darüber hinaus haben Geldüberweisungen von Migrantinnen, die aus einkommensschwachen in einkommensstarke Länder migriert sind, bedeutende Auswirkungen auf die Entwicklung jener einkommensschwachen Länder; laut Schätzungen ist der Umfang dieser Überweisungen derzeit größer als die weltweiten Aufwendungen für Entwicklungshilfe.29

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