Zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Michael Blake

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Zwischen Gerechtigkeit und Gnade - Michael  Blake

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Geltung der einem Recht zugrunde liegenden Interessen als unabhängig von der Staatsbürgerschaft einer Person begriffen werden sollte. „Aus der Perspektive des Individuums“, schreibt er, „ist innerstaatliche Bewegungsfreiheit aus einer Vielzahl von Gründen wichtig, die keinerlei Bezug zur politischen Mitgliedschaft haben.“53 Wir sollten daher annehmen, dass Nicht-Bürgerinnen wie auch Bürgerinnen ein Recht darauf haben, sich frei innerhalb eines Landes zu bewegen. Das Problem hiermit ist jedoch erneut, dass der für den Wunsch nach Bewegungsfreiheit ausschlaggebende Grund uns nicht alles darüber mitteilt, warum diese Freiheit von Bedeutung sein sollte. So könnte ich beispielsweise die Religionsfreiheit aus dem Grund befürworten, dass ich Kirchenarchitektur und Choräle liebe und diese daher gerne erhalten wissen würde. (Was, nebenbei gesagt, tatsächlich zutrifft.) Allerdings besteht in der Begründung der Religionsfreiheit keinerlei Bezug zu diesen individuellen Interessen. Stattdessen spielen dabei spezifischere Gründe bezüglich der Historie staatlicher Verurteilung und Marginalisierung von Mitgliedern missliebiger Glaubensgemeinschaften eine Rolle. Die Bedeutung der Religionsfreiheit beruht auf dieser Geschichte staatlicher Angriffe auf religiöse Praktiken. Wir verteidigen die Religionsfreiheit nicht einfach deshalb, weil das Interesse an Religion stark ist, sondern aufgrund einer Vergangenheit, in der die Menschen- und Bürgerrechte der Anhänger bestimmter Religionsgemeinschaften allzu oft missachtet wurden. Ebenso sollten wir die interne Bewegungsfreiheit aus Gründen verteidigen, die sich speziell auf die Legitimation politischen Zwangs beziehen – und nicht einfach auf die Stärke der Interessen, die von einem solchen Recht verteidigt würden.

      Einen solchen Zusammenhang zwischen politischer Gleichheit und innerstaatlicher Bewegungsfreiheit weist Carens mit wenigen Sätzen zurück: Innerstaatliche Bewegungsfreiheit sei „ein zu umfassendes Recht“, als dass ihr vorrangiger Zweck in der Vermeidung von Diskriminierungen bestehen sollte.54 Ich denke nicht, dass dieses Argument funktioniert. Andere, tendenziell stärkere – und umfassendere – Rechte sind häufig in vergleichsweise eng gefassten Zwecken begründet. Nehmen Sie zum Beispiel die Verteidigung der Rede- und Meinungsfreiheit John Stuart Mills, der diese Freiheit mit der Suche nach Wahrheit in persönlichen und politischen Diskursen rechtfertigt. Diese Verteidigung der freien Rede schützt aber nicht nur komplexe und erkenntnisreiche Diskussionen über die politische Ethik, sondern auch Groschenromane, Katzenblogs und die Filme von Michael Bay. Mit anderen Worten: Selbst eine eng umrissene Rechtfertigung kann ein umfassendes Recht begründen, vor allem dann, wenn uns die natürliche Tendenz des Staates, die Grenzen seiner legitimen Herrschaft zu überschreiten, Sorge bereitet.

      Ich möchte anmerken, dass Carens’ Position eine unter den Befürworterinnen offener Grenzen übliche Vorstellung von der Bewegungsfreiheit darstellt; sie verstehen Bewegungsfreiheit als ein vorpolitisches Recht. Dieser Vorstellung nach ist es so, als ob wir so lange dazu berechtigt gewesen wären, uns frei über die Oberfläche der Erde zu bewegen, bis Staaten entstanden und uns Mauern und Hindernisse in den Weg stellten. Dabei handelt es sich selbstredend bloß um eine bestimmte Art, die moralische Grundlage der Bewegungsfreiheit zu verstehen, und meiner Meinung nach handelt es sich dabei nicht um die einzig mögliche Betrachtungsweise – ganz abgesehen davon, dass ich sie auch einfach nicht besonders ansprechend finde. Die Vorstellung von einem Staat, der unsere vorpolitischen Rechte auf Bewegungsfreiheit einschränkt, scheint mir keine angemessene Konzeption der normativen Situation vor der Entstehung des Staates darzustellen. In einer vorpolitischen Situation wäre es unsere erste Aufgabe, eine Welt zu schaffen, in der Politik überhaupt erst möglich wird. Das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen, besteht meiner Meinung nach zu Recht gegenüber jedem Staat und zwar aus Gründen politischer Rechtfertigung. Aber in meinen Augen gibt es keinen Grund zu meinen, die Bewegungsfreiheit selbst sei auf die Art moralisch relevant, wie Carens und andere es behaupten.

      Ähnliche Überlegungen können in meinen Augen auch gegen das Argument vorgebracht werden, dass aus der Kohärenz mit einem Recht auf Emigration ein präsumtives Recht gegen Ausschluss folgt. Wie ich bereits an anderer Stelle gezeigt habe, hat ein Staat kein Recht darauf, seine Einwohnerinnen mittels Zwangsgewalt in seinem Hoheitsgebiet zu halten, wenn andernfalls diese Einwohnerinnen frei wären, den Zugriffsbereich des staatlichen Zwangs zu verlassen und einer anderen politischen Gemeinschaft beizutreten.55 Der Staat sollte Personen nicht durch die Androhung von Waffengewalt dazu zwingen, weiterhin mit ihm in einer politischen Beziehung zu stehen. Daraus folgt jedoch nicht, dass es ihm niemals gestattet ist, durch die Androhung solcher Gewalt Menschen am Beitritt zu einer solchen Beziehung zu hindern. Es verhält sich hierbei genauso wie wenn ich meine Haustür abschließe, um Sie in meinem Haus zu halten, oder wenn ich mit dem Abschließen bezwecke, Sie aus meinem Haus herauszuhalten. Letzteres ist moralisch in vielen Fällen zulässig, ersteres wird hingegen allgemein als moralisch falsch angesehen.

      David Miller nutzt diese Ideen, um die Kohärenz eines Systems an Rechten zu verteidigen, dem zufolge einer Person zwar ein Recht auf Auswanderung aus seinem Heimatland zukommt, sie jedoch zugleich kein Recht darauf besitzt, ein Land ihrer Wahl zu betreten.56 Christopher Heath Wellman nutzt die Analogie des Rechts auf Heirat – also das Recht darauf, eine Person zu heiraten, die freiwillig zustimmt, mich zu heiraten. Das Recht zu heiraten gewährleistet folglich kein Recht auf die Ehepartnerin oder den Ehepartner eigener Wahl, da keine Person einen Anspruch auf die Körper oder die Arbeit anderer zur Umsetzung seines eigenen Lebensplans besitzt.57

      In seiner Verteidigung der Inkompatibilität eines Rechts auf Auswanderung mit einem Recht auf Ausschluss weist Cole diese Analogien mit dem Argument zurück, dass eine Person auch ohne Eheschließung ein gutes Leben führen könne, ganz im Gegensatz zu einem Leben ohne Staat:

      „Niemand muss jemals in eine Ehe, einen Golfclub oder irgendeine der anderen Vereinigungen eintreten, auf die im Kontext der Migrationsdebatte häufig Bezug genommen wird. Aus diesem Grund ist es in diesen Fällen plausibel, anzunehmen, dass ein Recht auf Austritt nicht mit einem Recht auf Zutritt einhergeht, da hier der Austritt nicht notwendig von einem Zutritt andernorts abhängt. Eine Person kann vom Recht auf Austritt aus einer dieser Vereinigungen Gebrauch machen ohne einer anderen Vereinigung beizutreten, und dabei ist besonders auf den ‚Raum‘ außerhalb der einzelnen Vereinigungen zu verweisen, der frei betretbar ist und in dem jede Person ihre eigenen Lebensvorstellungen, so sie denn mag, gut verfolgen kann. Das ist jedoch auf drastische und bedeutsame Weise nicht der Fall, wenn es um Nationalstaaten geht. […] Es gibt zwar einen ‚Raum‘ der Staatenlosigkeit, aber diesen will kein Mensch betreten – er ist zutiefst problematisch, gefährlich und macht es unmöglich, eigene Lebensvorstellungen überhaupt zu entwickeln. Während es also plausibel ist, ein Recht auf Austritt ohne ein damit einhergehendes Recht auf Zutritt im Falle von Vereinigungen wie der Ehe oder bei Golfclubs anzunehmen, da es hier für den Austritt nicht zwingend eines Zutritts zu einer anderen Vereinigungen bedarf, liegt der Fall bei Nationalstaaten gänzlich anders, da hier das Recht auf Auswanderung den Zutritt zu einem anderen Gemeinwesen voraussetzt. Daher ist es in diesem Fall plausibel, dass aus dem Recht auf Austritt auch ein Recht auf Zutritt folgt.“58

      Für Cole setzt die Existenz eines Rechts auf Austritt daher eine tatsächlich verfügbare Möglichkeit dieses Austritts voraus. Das erscheint jedoch seltsam: Ich kann durchaus die Freiheit haben, etwas zu tun, ohne dabei auch über die konkreten Mittel zu verfügen, die für die Nutzung dieser Freiheit vonnöten sind. Rawls’ Unterscheidung zwischen der Freiheit und dem Wert der Freiheit dient exakt dem Zweck, diese Differenz hervorzuheben; wir wollen zwischen der Freiheit, etwas zu tun, und meiner Verfügung über die dafür notwendigen Mittel unterscheiden können. Es erscheint daher schlicht falsch, anzunehmen, dass das Recht auf Austritt nur dann existiert, wenn eine Person dieses Recht auch tatsächlich nutzen kann – so wie es falsch ist, zu meinen, dass mein Recht auf Religionsfreiheit nur dann existiert, wenn ich die von meinem Glauben geforderte teure Pilgerreise unternehmen kann. Diesen Umstand erkennt selbst Carens an: Das Recht auf freie Migration, so bemerkt er, ist es wert, um seiner selbst willen verteidigt zu werden – selbst für diejenigen, die (noch) nicht über die Mittel verfügen, dieses Recht auch tatsächlich zu nutzen.59

      Wir können daher die moralische Relevanz eines Rechts auf Austritt auch

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