Punkt - Punkt - Sommer - Strich. Roy Jacobsen
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»Warum willst du auf Leben und Tod vom Sprungturm springen?«
»Um den Mädels zu imponieren, ist doch klar«, sagt seine Schwester.
»Ne, gar nich’ deshalb!«
Mutter:
»Und davon lassen sie sich auch gar nicht imponieren.«
»Weiß ich doch.«
Natürlich lügen beide, das sehen wir schon an der einfachen geographischen Lage des Sprungturms; Sprungtürme haben sich während der gesamten Geschichte im Zentrum der menschlichen Aufmerksamkeit befunden. Niemand hat jemals an einer öden Küste oder an einem kleinen Teich einen Sprungturm gebaut, niemand ist auf die Idee verfallen, um die edle Kunst des Springens eine Geheimloge aufzubauen. Nein, das Springen ist auf Zuschauer berechnet, ob man nun ein Profisportler ist oder nur ein hilfloser junger Mann in Ferien. Und deshalb sage ich:
»Das weißt du nicht, mein Junge. Wir wissen beide sehr gut, daß Mädchen sich vom mutigsten Jungen imponieren lassen.«
»So was Blödes hab ich noch nie gehört«, ruft Katrine. »Du warst doch nie besonders mutig!«
Und Vater, der nun zu einer sinnreichen Entlarvung der banalen Rituale des Geschlechtslebens ansetzen wollte, die sich seiner Ansicht nach im Sperrfeuer unserer ganzen Generation von Argumenten, Wunschdenken, »Veränderung«, »Aufklärung«, »Bewußtmachung« usw. gehalten haben, muß sich nun geschlagen geben, nicht, weil ihm ein schlagendes Argument die Flügel gestutzt hat, sondern weil seine Antwort vor den Kindern nicht ohne weiteres vorgetragen werden kann. Es ist nämlich eine Tatsache, daß Katrine sich nicht für mich entschieden hat, weil ich ein vernünftiger Kümmerling bin, der nie seine Grenzen verschoben, und der sich seine ganze Jugend hindurch auf das unterste Brett beschränkt hat, auf den Einer, wo er hingehörte. Nein, ich wurde von Katrine gewählt, weil sie den, der aus den höchsten Höhen sprang, nicht gekriegt hat. Den, der aus den höchsten Höhen sprang, bekam ihre Freundin, die beiden heirateten, und Katrine brach mit ihrer Freundin (»eine oberflächliche Kuh«) und kam wohl gleichzeitig zu einer Art Erkenntnis, daß es weniger Mühe macht, sich mit dem zu bescheiden, was man gratis bekommt. Und diese Gratisperson war ich. Ich war unsterblich in sie verliebt, aber trotzdem konnte ich doch nach einer Weile folgendes aus mir herauspressen:
»Ich weiß, daß du eigentlich nicht mich wolltest, Katrine, sondern ihn. Aber das ist mir scheißegal. Jetzt habe ich dich, und ich lasse dich nie wieder los!«
Das saß. Damit zeigte ich nämlich, daß ich doch über den Mut eines Springers verfügte. Aber diese Überlegung läßt sich hier am Frühstückstisch natürlich nicht verwenden. Deshalb lächele ich bloß dämlich, wie sich das gehört für einen, der gerade in einem Disput verloren hat, und trinke meinen Kaffee, aus der Teetasse, die Katrine vor mich hingestellt hat. Heute mußte ich mir den Kaffee selber einschenken – zwischen uns gibt es nämlich etwas Ungeklärtes: Katrine weiß, daß ich mehr Informationen über den Mord habe als sie, sie weiß, daß ich alte Zeitungen gelesen und daß ich hier am Ort mit der Polizei gesprochen habe. Obwohl das nur ein lockerer Schwatz am Steg war, bei dem es zuerst ums Segeln ging, und der sich bald zur reinen Fachdebatte entwickelte, was Katrine so langweilte, daß sie sich zurückzog. Genau, wie ich geplant hatte, mit der Folge, daß der Polizist und ich zwanzig Minuten lang über den alten Mord plauderten. Erst, als ich ins Restaurant kam und mich an den Tisch setzte, den wir inzwischen bei unseren Spaziergängen durch die Ortsmitte immer belegen, ging Katrine auf, daß sie etwas verpaßt hatte, und daß das ganz allein ihre eigene Schuld war.
»Hat er dir etwas über den Mord erzählt?«
»Nicht viel!«
»John!«
»Nur, daß sie nie herausfinden konnten, wer die Schwägerin umgebracht hat, der Kapitän oder seine Frau, obwohl wir beide auf die Frau tippen und annehmen, der Kapitän habe ihr dann geholfen, das Verbrechen zu vertuschen, unter anderem dadurch, daß die Leiche vergraben wurde.«
»Und wer hat sie zersägt?«
»Vermutlich der Kapitän.«
»Aber warum in aller Welt hat er das getan?«
»Ja, was glaubst du, du liebst doch Kriminalromane? Versuch, dir einen guten Grund auszudenken, warum eine Leiche zersägt werden muß.«
»Die Romane, die mir gefallen, bringen nie ›gute‹ Gründe für so etwas, nur Geisteskrankheit in verschiedenen Varianten.«
»Und wenn ich sage, daß er ein ganz rationelles Motiv dafür hatte, sie zu zersägen, dann sagst du, wir lebten in einer kranken Welt.«
»Genau.«
»Das ist dein Lieblingssatz, meine Liebe.«
»Das macht ihn noch lange nicht falsch.«
»Dann wirst du auch die Erklärung nicht akzeptieren.«
Diese schlagfertige Zurückweisung stürzt sie in ziemliche Verwirrung, und wenn Katrine sich kritisiert fühlt, vergehen gern einige Minuten mit stummen Vorwürfen und etlichen anderen komplizierten Dingen, die zwischen den Eheleuten hin und her wandern, ehe das ursprüngliche Thema wieder aufgegriffen werden kann. Und ehe wir so weit gekommen waren, hatte unsere Tochter sich am Restauranttisch eingefunden, zur verabredeten Zeit, um zusammen mit ihrer Mutter den Einkauf des Badeanzuges zu tätigen, der, wie ich vorhin erwähnt habe, ihr Selbstvertrauen so beruhigend steigern wird; Katrine mußte unverrichteter Dinge den Tisch verlassen.
Am selben Abend griff sie den Faden jedoch wieder auf, und nun erklärte ich ihr, wie es um die Logik des Kapitäns bestellt war, daß die Schwägerin mit Zyanid ermordet worden war, daß er sie in der Mitte durchgesägt hatte, um a) ihren Magen zu entleeren und b) den Eindruck zu erwekken, man habe es mit einem kranken Mörder zu tun, falls sie unwahrscheinlicherweise gefunden würde.
»Und letzteres ist ihm ja ganz gut gelungen«, fügte ich säuerlich hinzu, ehe Katrine mit ihrem »das kann ich einfach nicht glauben« anfangen konnte.
Also sagte sie lieber:
»So etwas durchzuziehen, um den Eindruck zu erwecken, man sei geisteskrank, ist in meinen Augen ein Zeichen dafür, daß man das wirklich ist.«
So sieht man in unseren Kreisen tatsächlich die Welt, jedenfalls das, was uns an ihr nicht gefällt. Wir können es nicht hinnehmen, daß ein Mensch eine rationale Denkweise (unsere eigene) als Motiv für eine Handlung verwendet, die wir entsetzlich finden; dann machen wir aus dem Betreffenden lieber einen Geisteskranken, oder wir erklären kurz und gut die Vernunft für krank. Ich weiß noch, was passiert ist, als ich bei einem Kongreß unserer kleinen exklusiven Partei versuchen wollte, meinen Genossen zu erklären, was aus Napoleon einen genialen Feldherren machte – das ging nicht. Alle waren so damit beschäftigt, sich von allen Taten dieses Mannes zu distanzieren, daß sie sich nicht auf seine Prämissen und seine Logik einlassen konnten. Das istnatürlich gar nicht so unbegreiflich, da ein solches Einlassen – falls es geglückt wäre – eine Bestätigung dafür gewesen wäre, daß sich diese Logik auch irgendwo in diesen emanzipierten Parteigenossen wiederfand, was aber lieber nicht der Fall sein sollte. Aus diesem Grunde wollten sie auch nicht einsehen, daß Maos Militärstrategie – das Beste daran, das einzige Brauchbare sogar – um nichts von der früherer chinesischer Feldherren abwich und daß diese Strategie überraschende Ähnlichkeiten zu der von Clausewitz,