Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman). Karl May

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Der verlorene Sohn - Der Fürst des Elends (Kriminalroman) - Karl May

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wendete ihm noch einmal den Blick der schönen Augen zu. Ihr Busen wogte heftig auf und nieder. Sie kämpfte einen schweren Kampf, der ihr Herz, ihr ganzes Innere zerfleischte. Dann aber antwortete sie:

      »Ich darf nicht lügen! Es ist kein Verdacht, es ist die unbestreitbare Gewißheit, daß Du der Thäter bist. Lebe wohl, auf ewig!«

      Sie ging mit dem Baron. Gustav wußte nicht, was er thun, was er sagen sollte. Das, was er jetzt erlebte, war so ungeheuerlich, daß es ihn fast betäubte. Es brauste ihm um die Ohren, als ob er sich inmitten einer tosenden Brandung befinde, und nur wie im Traume, nur wie aus weiter Ferne vernahm er die Frage des Gensdarmen:

      »Aus welchem Gewehre sind die Kugeln gekommen, Herr Brandt?«

      »Aus diesem«, antwortete er, auf seine Büchse deutend.

      »Es ist das Ihrige?«

      »Ja. Ich lag da drinnen zwischen den Bäumen. Die Büchse lehnte an einem Stamme. Ich sah die Baronesse kommen und trat auf den Weg fort; da kam der Hauptmann. Während wir uns unterhielten, fielen zwei Schüsse; sie trafen ihn in die Brust. Er war todt. Ich sprang dahin, wo ich mein Gewehr gelassen hatte. Es lag abgeschossen am Boden, aber Niemand war da. Der Mörder war augenblicklich entflohen. Ihm nachzueilen, wäre vergebens gewesen. Ich kehrte darum zu dem Hauptmanne zurück, um zu sehen, ob er wirklich todt sei. Ich hatte das Gewehr noch in der Hand. In diesem Augenblicke kam die Baronesse retour. Sie hatte die Schüsse gehört. Sie sah mich mit der Büchse, sie erblickte den Todten; ich sehe ein, daß sie mich für den Mörder halten mußte, zumal ich gestern mit dem Hauptmanne einen Wortwechsel hatte. Sie fiel in Ohnmacht.«

      Er hatte diesen Bericht in kurzen, abgerissenen Sätzen gegeben. Sein Gesicht glich dabei demjenigen eines Nachtwandlers, welcher nicht weiß, was er thut und spricht.

      Der Gensdarm schüttelte den Kopf und meinte:

      »Ich möchte gern glauben, daß Sie unschuldig sind und daß es in Wirklichkeit so ist, wie Sie sagen. Jedenfalls wird es Ihnen gelingen, dies zu beweisen. Aber Sie sind Jurist; Sie kennen die Pflichten meines Amtes. Ich muß Sie bitten, sich als meinen Gefangenen zu betrachten.«

      Alle Anwesenden hatten gewußt, daß es so kommen müsse; aber als das schlimme Wort ausgesprochen war, ging doch ein halblautes Murmeln durch ihre Reihe.

      »Er ist es nicht gewesen«, meinte der Eine.

      »Nein, er kann es nicht gewesen sein; man muß ihm Glauben schenken«, sagte der Andere.

      »Ich verbürge mich für ihn!« rief ein Dritter. »Man darf, man soll ihn nicht arretiren!«

      Der Gensdarm warf einen strengen Blick auf den Sprecher. Er wollte eine Antwort geben, aber Gustav kam ihm zuvor.

      »Laßt das gut sein, meine Freunde«, sagte er. »Der Verdacht ist gegen mich, und es wird mir wohl gelingen, ihn zu zerstreuen. Ich darf mich der Arretur nicht widersetzen. Herr Gensdarm, ich stelle mich Ihnen zur Verfügung.«

      Der Beamte nickte mit dem Kopfe und sagte dann:

      »Sie wissen ebenso gut wie ich, was ich da zunächst zu thun habe?«

      »Ja. Sie werden mich erst durchsuchen und dann fesseln. Einem Mörder legt man Fesseln an; das ist vorgeschrieben.«

      Er hatte das im bittersten Tone gesprochen. Dann griff er in die Taschen und zog Alles hervor, was sich in denselben befand: die Uhr, ein Federmesser, die Geldbörse, das Taschentuch, ein Cigarrenetui und endlich –

      »Was ist das?« fragte er, im höchsten Grade erstaunt, als er aus der Seitentasche seines Jaquetes auch einen Schlüssel hervorbrachte.

      »Sie kennen diesen Schlüssel nicht?« fragte der Gensdarm.

      »Nein, ganz und gar nicht. Ich habe ihn niemals besessen.«

      »Zeigen Sie her! Der Form und Größe nach muß es ein Zimmerschlüssel sein. Vielleicht läßt es sich später sagen, wem er gehört und wie er in Ihre Tasche gerathen ist. Ich bin verpflichtet, diese Gegenstände an mich zu nehmen. Darf ich um Ihre Hände bitten!«

      Es überlief Brandt doch ein Grauen, als er sah, daß der Beamte eine dünne, aber feste Schnur hervorzog.

      »Ah, die Fessel!« sagte er. »Hier, binden Sie mich, damit ich Ihnen nicht entfliehen kann! Wohin führen Sie mich?«

      »Nach dem Schlosse. Wenn die Herren vom Gerichte in der Tannenschlucht fertig sind, werden sie sich zu Ihnen verfügen und ich bin überzeugt, daß es Ihnen sofort gelingen wird, sie von Ihrer Unschuld zu überzeugen. Mein College wird hier bei der Leiche zurückbleiben, damit der status quo erhalten bleibe.«

      Brandt wurde gebunden und mußte dann dem Beamten nach dem Schlosse folgen. Er befand sich in einem Zustande, welcher sich nicht beschreiben läßt; er war vollständig unfähig, sich objectiv in dem Ereignisse zurecht zu finden. Er schritt ganz mechanisch neben dem Gensdarmen her. Er bemerkte nicht, wem er begegnete; er sah nicht, wie verwundert, ja entsetzt man überall die Augen auf ihn richtete, und erst als er in ein festes Gelaß des Schlosses eingesperrt worden war, kam ihm der Gedanke, daß sein Verhalten doch ein noch viel entschiedeneres hätte sein können.

      Auch Alma war in einer ähnlichen Geistesverfassung auf dem Schlosse angekommen. Sie wollte zu dem Vater eilen, um ihm das Schreckliche mitzutheilen, fand jedoch seine Thür verschlossen. Das war noch niemals vorgekommen. Als sie auf mehrmaliges und immer stärkeres Klopfen keine Antwort erhielt, wurde ihr himmelangst. Sie rief die Diener herbei und erfuhr von ihnen, daß der gnädige Herr sich seit gestern gar nicht habe erblicken lassen. Man klopfte noch einige Male so stark, daß es laut genug war, um nicht nur einen Schläfer, sondern gradezu einen Ohnmächtigen zu erwecken, und als selbst jetzt keine Antwort wurde, schickte Alma, welche sich vor Angst kaum zu fassen vermochte, in das Dorf nach dem Schmiede. Dieser machte auch die vorkommenden Schlosserarbeiten und hatte das nöthige Werkzeug, eine Thür zu öffnen.

      Das überlaute Klopfen war dem Gensdarm aufgefallen. Um zu sehen, was es zu bedeuten habe, kam er herbei. Er sah sämmtliche Diener um Alma versammelt, dachte sich, daß dies einen außergewöhnlichen Grund haben müsse und fragte nach demselben. Er erfuhr ihn. Ganz unwillkürlich dachte er an den Schlüssel, welchen Brandt in seiner Tasche gehabt hatte. Er trug denselben noch bei sich und zog ihn hervor.

      »Ist es dieser vielleicht?« fragte er.

      Die Zofe Ella kannte die Schlüssel am besten. Sie nahm ihn in die Hand, betrachtete ihn und antwortete:

      »Er scheint es wirklich zu sein. Woher haben Sie ihn?«

      »Das werden Sie vielleicht erfahren. Bitte, probiren Sie einmal, ob er paßt, ob er schließt.«

      Sie steckte ihn an. Es war der richtige Schlüssel. Die Thür ging auf. Aber als die vor derselben Stehenden einen Blick in das Zimmer warfen, ertönte ein allgemeiner Schrei des Entsetzens. Der Raum war mit Blut überschwemmt gewesen, welches nun geronnen war, und inmitten dieser fürchterlichen Scene lag mit durchschnittenem Halse der Baron.

      Alma stand da, als ob sie ein Gespenst erblicke. Ihre Augen waren starr auf den Todten gerichtet, sie streckte die Hände mit den ausgespreizten zehn Fingern weit von sich, und ihr Haar schien sich emporsträuben zu wollen. Endlich aber löste sich der Bann, welcher sie umfangen hielt.

      »Vater! Mein Vater!« rief sie.

      Mit

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