Lange Schatten. Louise Penny
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Er hatte eine schöne Frau geheiratet, und aus einer gewissen Distanz und von hinten war sie noch immer umwerfend.
Nur schien ihr Kopf seit Kurzem gewachsen und der Rest geschrumpft zu sein, so als hätte er nun eine Art Luftmatratze an seiner Seite, aus der die Luft entwichen war. Orangefarben und weich und schlaff und eigentlich zu nichts mehr nutze.
Während Sandra ihm den Rücken zuwandte, nahm er mit einer schnellen, geübten Handbewegung die alten Manschettenknöpfe ab, die ihm sein Vater zu seinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte.
»Die hat mir einmal mein Vater geschenkt, und jetzt ist es an der Zeit, sie an dich weiterzugeben«, hatte sein Vater gesagt. Thomas hatte die Manschettenknöpfe und den abgegriffenen Samtbeutel, der dazugehörte, genommen und sie mit einer möglichst lässigen Bewegung, mit der er seinen Vater verletzen wollte, in seine Hosentasche befördert. Und tatsächlich, es war ihm gelungen.
Sein Vater schenkte ihm nie wieder etwas. Nie.
Rasch legte er sein altes Jackett und das Hemd ab, froh, dass niemand bemerkt hatte, wie abgewetzt die Manschetten waren. In diesem Moment trat Sandra durch die Tür. Lässig warf er das Hemd und das Jackett über einen Stuhl.
»Warum musstest du mir beim Bridge eigentlich widersprechen?«, fragte sie.
»Habe ich das?«
»Sicher. Vor deiner ganzen Familie und diesem Paar, dem Krämer und seiner Putzfrau.«
»Die Putzfrau war ihre Mutter«, verbesserte Thomas sie.
»Siehst du, schon wieder. Ich kann nichts sagen, ohne dass du mich verbesserst.«
»Willst du etwa Dinge in die Welt setzen, die nicht stimmen?«
Wie oft hatten sie im Laufe ihres Ehelebens diesen Pfad schon beschritten.
»Na gut, was habe ich also gesagt?«, fragte er schließlich.
»Du weißt genau, was du gesagt hast. Dass Birnen am besten zu geschmolzener Schokolade passen.«
»Wie bitte? Um Birnen geht es?«
So wie er es sagte, klang es lächerlich, aber Sandra wusste genau, dass es das nicht war. Sie wusste, dass es wichtig war. Entscheidend.
»Ja, Birnen. Ich sagte Erdbeeren, und du sagtest Birnen.«
Allmählich fand sie es selbst ein wenig banal.
»Ich finde Birnen eben besser«, sagte er.
»Jetzt erzähl mir bloß nicht, dass du zu diesem Thema überhaupt eine Meinung hast!«
Dieses ganze Gerede über warme Schokolade, die von frischen Erdbeeren oder, wenn es sein musste, auch Birnen tropfte, ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie sah sich nach den kleinen Schokoladentäfelchen um, die in Hotels auf die Kissen gelegt wurden. Suchte ihre Seite des Betts ab, seine Seite, die Kissen, das Nachttischchen. Sie lief ins Badezimmer. Nichts. Sie starrte das Waschbecken an, fragte sich, wie viele Kalorien Zahnpasta hatte.
Nichts. Nichts Essbares. Sie betrachtete ihre Nagelhaut, aber die hob sie sich lieber für den Notfall auf. Sie kehrte ins Zimmer zurück, wo ihr Blick auf die abgewetzten Manschetten fiel, und sie fragte sich, warum sie so abgewetzt waren. Sicher nicht durch zu viele Berührungen.
»Du hast mich vor allen anderen gedemütigt«, sagte sie, indem sie ihr Verlangen nach etwas Süßem in das Verlangen, jemanden zu verletzen, verwandelte. Er drehte sich nicht einmal um. Sie wusste, dass sie es gut sein lassen sollte, aber es war zu spät. Sie hatte seine Beleidigung durchgekaut, sie zerpflückt und hinuntergeschluckt, sodass sie zu einem Teil von ihr geworden war.
»Warum tust du das? Wegen einer Birne? Warum kannst du mir nicht ein einziges Mal in deinem Leben zustimmen?«
Zwei Monate lang hatte sie Zweige und Beeren und irgendwelches blödes Gras gefressen und sieben Kilo verloren, und das alles nur aus einem einzigen Grund. Damit seine Familie sagte, wie hübsch und schlank sie aussah, und dass vielleicht sogar Thomas es bemerkte. Vielleicht würde er ihnen glauben. Vielleicht würde er sie berühren. Nur berühren. Nicht einmal mit ihr schlafen. Sie nur berühren. Sie hungerte danach.
Irene Finney sah in den Spiegel und hob die Hand. Sie näherte den eingeseiften Waschlappen ihrem Gesicht, dann hielt sie inne.
Morgen würde Spot kommen, und dann wären sie wieder alle zusammen. Die vier Kinder, die vier Himmelsrichtungen.
Wie viele alte Menschen wusste Irene, dass die Erde flach war. Sie hatte einen Anfang und ein Ende. Und sie war am Ende angelangt.
Nur eines gab es noch zu tun. Morgen.
Irene Finney starrte ihr Spiegelbild an. Langsam begann sie, mit dem Waschlappen über ihre Wangen zu reiben. Im Nebenzimmer ballte Bert Finney die Hände zu Fäusten, als er das unterdrückte Schluchzen seiner Frau hörte, die ihr Gesicht abwusch.
Armand Gamache erwachte im Schein der Morgensonne, der durch die reglosen Vorhänge sickerte und über ihr Lager und seinen schwitzenden Körper floss. Die feuchten Laken hatten sie ans Fußende des Bettes gestrampelt. Neben ihm regte sich Reine-Marie.
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte sie verschlafen.
»Halb sieben.«
»Morgens?« Sie stützte sich auf einen Ellbogen. Er nickte und lächelte. »Und es ist schon so heiß?« Er nickte noch einmal. »Es wird mörderisch werden.«
»Das hat Pierre gestern auch gesagt. Eine Hitzewelle.«
»Jetzt weiß ich endlich, warum es Welle heißt«, sagte Reine-Marie und fuhr mit dem Finger über seinen feuchten Arm. »Ich brauche eine Dusche.«
»Ich weiß etwas Besseres.«
Binnen Minuten waren sie am Steg, schlüpften aus ihren Sandalen und ließen ihre Handtücher in kleinen Haufen auf das warme Holz fallen. Gamache und Reine-Marie betrachteten die Welt der zwei Sonnen, zwei Himmel, vervielfältigter Berge und Wälder. Der See war nicht nur glasklar, er war auch ein Spiegel. Ein Vogel glitt über den wolkenlosen Himmel und zog gleichzeitig auf dem stillen Wasser seine Bahn. Diese Welt war so vollkommen, dass sie in zwei Hälften zerfiel. Kolibris schwirrten im Garten umher, und Schmetterlinge flatterten von Blüte zu Blüte. Zwei Libellen flirrten über den Steg. Reine-Marie und Gamache waren die einzigen Menschen auf der Welt.
»Du zuerst«, sagte Reine-Marie. Sie schaute ihm so gerne dabei zu. Genau wie ihre Kinder, als sie klein waren.
Er lächelte, beugte seine Knie und stieß sich von den Planken ab. Einen Moment lang schien er in der Luft zu schweben, die Arme ausgestreckt, als hoffte er, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Er machte eher den Eindruck, als strecke er sich dem Himmel und nicht dem Wasser entgegen. Aber dann kam, was kommen musste, da auch Armand Gamache nicht fliegen konnte. Er klatschte ins Wasser. Es war so kalt, dass ihm einen Moment lang die Luft wegblieb, aber als er an die Wasseroberfläche kam, fühlte er sich erfrischt und hellwach.
Reine-Marie sah zu, wie er das Wasser aus seinen Phantomhaaren schüttelte, genau so, wie er es schon bei ihrem allerersten Aufenthalt hier