Lange Schatten. Louise Penny
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Читать онлайн книгу Lange Schatten - Louise Penny страница 16
»Der wäre selbst vom Weltall aus kaum zu übersehen.«
Pierre nickte. »Madame Dubois klärte Sie also nicht auf, als Sie eingecheckt haben?«
Reine-Marie und Gamache wechselten einen Blick und schüttelten den Kopf.
»Nun.« Der Maître d’ machte den Eindruck, als wäre ihm die Sache etwas peinlich. »Ich fürchte, Sie werden sie selbst fragen müssen. Es ist eine Überraschung.«
»Hoffentlich eine schöne Überraschung«, sagte Reine-Marie.
Pierre überlegte kurz. »Das wissen wir noch nicht. Aber es wird sich bald zeigen.«
5
Nach dem Frühstück rief Gamache bei seinem Sohn in Paris an und hinterließ auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht mit der Nummer des Manoir. So tief in den Wäldern gab es keinen Handyempfang.
Der Tag plätscherte angenehm dahin, die Temperatur stieg langsam, aber stetig, bis sie irgendwann merkten, dass es richtig heiß war. Das Hotelpersonal schleppte Liegestühle durch den Garten und stellte sie für die schwitzenden Gäste an schattigen Plätzen auf.
»Spot!«
Der Ruf zerriss die schwüle Mittagsstille und ließ Gamache zusammenzucken.
»Spot!«
»Seltsam«, sagte Reine-Marie und nahm die Sonnenbrille ab, um ihren Mann anzusehen, »das klingt genauso, als würde jemand ›Feuer!‹ schreien.«
Gamache legte einen Finger zwischen die Seiten seines Buchs und blickte in die Richtung, aus der der Ruf kam. Er war neugierig, wie dieser »Spot« aussehen mochte. Wie ein Dalmatiner? Gefleckt?
Thomas Morrow rief noch einmal »Spot!« und steuerte über den Rasen auf einen gut gekleideten großen Mann mit grauen Haaren zu. Gamache nahm seine Sonnenbrille ab und sah genauer hin.
»Das heißt wohl, dass es mit der Ruhe und dem Frieden vorbei ist«, sagte Reine-Marie mit Bedauern. »Der widerwärtige Spot und sein grässliches Weib Claire sind eingetroffen.«
Gamache setzte die Brille wieder auf und blinzelte angestrengt, er war sich nicht sicher, ob er seinen Augen trauen sollte.
»Was ist?«, fragte Reine-Marie.
»Das errätst du nie.«
Die beiden Männer traten auf dem Rasen des Manoir Bellechasse aufeinander zu. Der distinguierte Thomas und sein jüngerer Bruder Spot.
Reine-Marie sah hinüber. »Aber das ist doch …«
»Ja, das glaube ich auch«, sagte Gamache.
»Und wo ist …«, Reine-Marie war völlig verwirrt.
»Keine Ahnung. Ach, da kommt sie ja.«
Um die Ecke des Manoir bog eine etwas derangiert aussehende Frau mit fliegenden Haaren, auf denen ein zerknautschter Sonnenhut thronte.
»Clara?«, flüsterte Reine-Marie Gamache zu. »Mein Gott, Armand, Spot und Claire Finney sind Peter und Clara Morrow. Das grenzt ja an ein Wunder.« Sie strahlte vor Freude. Die Neuankömmlinge, denen sie mit Grausen entgegengesehen hatte, entpuppten sich als ihre Freunde.
Jetzt begrüßte Sandra Peter, und Thomas umarmte Clara. Im Vergleich zu ihm war sie winzig und verschwand fast in seinen Armen, und als er sie wieder losließ, wirkte sie noch zerzauster.
»Du siehst richtig gut aus«, sagte Sandra, während sie Clara musterte und mit Befriedigung feststellte, dass diese an Hüften und Oberschenkeln ziemlich zugelegt hatte. Und unvorteilhaft gestreifte Shorts zu einem getupften Oberteil trug. Und so was nennt sich Künstlerin, dachte Sandra und fühlte sich gleich viel besser.
»Es geht mir auch gut. Sag mal, hast du abgenommen? Du musst mir unbedingt verraten, wie du das geschafft hast, Sandra. Ich würde wirklich gern zehn Pfund loswerden.«
»Du?«, rief Sandra. »Das hast du doch überhaupt nicht nötig.«
Die beiden Frauen entfernten sich Arm in Arm aus Gamaches Hörweite.
»Peter«, sagte Thomas.
»Thomas«, sagte Peter.
Sie nickten einander steif zu.
»Geht’s gut?«
»Könnte nicht besser sein.«
Sie sprachen Telegrammstil, kein Wort zu viel.
»Und selbst?«
»Hervorragend.«
Ihre Sprache beschränkte sich aufs Wesentliche. Über kurz oder lang wären nur noch Konsonanten übrig. Und danach kam Schweigen.
Gamache beobachtete sie von seinem schattigen Platz aus. Er wusste, dass er sich freuen sollte, seine Freunde hier zu sehen, und das tat er auch. Doch gleichzeitig stellte er fest, dass sich die Haare auf seinen Armen aufgerichtet hatten, und er spürte es in seinem Nacken kribbeln.
An diesem strahlenden, heißen Sommertag, an diesem idyllischen, friedlichen Ort war nicht alles so, wie es schien.
Clara ging zu der steinernen Brüstung der Terrasse, in der Hand ein Bier und ein Tomatensandwich, von dem unbemerkt Tomatenkerne auf ihre neue Baumwollbluse tropften. Sie versuchte, sich im Schatten zu verbergen, was nicht besonders schwierig war, da Peters Familie ihr sowieso kaum Beachtung schenkte. Sie war nichts weiter als die Schwiegertochter und Schwägerin. Am Anfang hatte sie sich darüber geärgert, aber inzwischen war sie froh.
Sie blickte auf die Staudenbeete und stellte fest, dass sie nur die Augen zusammenkneifen musste, und schon konnte sie so tun, als wäre sie zu Hause in Three Pines. So weit weg war das kleine Dorf ja auch gar nicht. Gleich hinter der nächsten Bergkette. Im Augenblick kam es ihr jedoch sehr weit weg vor.
Zu Hause schenkte sie sich im Sommer morgens immer eine Tasse Kaffee ein und ging barfuß hinunter zu dem Flüsschen Bella Bella hinter ihrem Haus, begleitet vom Duft von Rosen, Phlox und Lilien. Sie setzte sich in der milden Morgensonne auf eine Bank, trank ihren Kaffee und versank in den Anblick des gemächlich dahinfließenden Wassers, dessen Oberfläche im Sonnenschein golden und silbern glitzerte. Anschließend ging sie ins Atelier und malte bis zum Nachmittag. Dann holten Peter und sie sich jeder ein Bier und spazierten durch den Garten, oder sie trafen sich mit Freunden auf ein Glas Wein im Bistro. Es war ein ruhiges, beschauliches Leben. Genau, wie es ihnen gefiel.
Vor einigen Wochen war sie wie gewöhnlich zum Briefkasten geschlendert, um nach der Post zu sehen. Und da hatte sie die gefürchtete Einladung vorgefunden. Die rostige Klappe hatte beim Öffnen gequietscht, und schon als sie die Hand hineinsteckte, hatte sie gewusst, was es war. Sie spürte das dicke Papier des Umschlags zwischen ihren Fingern. Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn einfach wegzuwerfen, ihn in die blaue Papiertonne zu stopfen, damit man etwas Nützliches daraus machte, Klopapier zum Beispiel. Aber sie hatte es nicht getan. Stattdessen hatte sie die krakelige Schrift angestarrt, das unheilverkündende Gekritzel, das ein Gefühl bei ihr hervorrief, als würden Tausende von Ameisen über ihren Körper