Lange Schatten. Louise Penny
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»Aber es ist doch ein Familientreffen.« Peter wäre nur zu gerne mit ihr gegangen, hätte ihre Hand genommen, wäre mit ihr über den perfekt getrimmten Rasen gelaufen und hätte nach den Freunden gesucht. Während des Mittagessens, als die Familie entweder schweigend aß oder über die Entwicklung auf dem Aktienmarkt diskutierte, hatten sich Peter und Clara in aufgeregtem Flüsterton über die Gamaches unterhalten.
»Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, sagte Peter und bemühte sich, leise zu sprechen. »Du hast ausgesehen wie Dorothy, als sie dem mächtigen Zauberer von Oz gegenübersteht. Völlig verdattert.«
»Ich glaube, du verbringst zu viel Zeit mit Olivier und Gabri«, erwiderte Clara und lächelte. Sie hatte noch nie bei einem Familientreffen gelächelt. Merkwürdiges Gefühl. »Abgesehen davon hast du genauso ausgesehen, total perplex. Aber es ist doch wirklich kaum zu fassen, dass die Gamaches hier sind, oder? Meinst du, wir können uns heute Nachmittag wegschleichen und sie treffen?«
»Warum nicht?«, flüsterte Peter hinter einem warmen Brötchen hervor. Die Aussicht, ein paar Stunden mit ihren Freunden zu verbringen, statt seine Familie ertragen zu müssen, war ungemein verlockend.
Clara hatte auf ihre Uhr gesehen. Zwei. Noch zwanzig Stunden. Wenn sie um elf ins Bett ging und morgen früh um neun aufwachte, dann blieben nur noch – sie versuchte es im Kopf auszurechnen – elf Stunden, die sie im Wachzustand mit Peters Familie zusammen sein musste. Das würde sie irgendwie schaffen. Davon noch zwei Stunden mit den Gamaches abgezogen, blieben neun. Lieber Gott, das Ende war ja praktisch bereits in Sicht. Dann konnten sie in ihr kleines Dorf zurückkehren, bis nächstes Jahr wieder eine Einladung eintrudelte.
Bloß nicht daran denken.
Doch in diesem Moment blieb Peter zögernd auf der Terrasse stehen, wie sie es eigentlich schon vorausgesehen hatte. Schon beim Mittagessen hatte sie gewusst, dass er es nicht fertigbringen würde. Trotzdem hatte es Spaß gemacht, so zu tun als ob. Es war, als würde man sich innerlich verkleiden. So tun, als gehöre man dieses eine Mal zu den Mutigen.
Aber letzten Endes brachte er es natürlich nicht über sich. Und Clara konnte ihn nicht allein lassen. Deshalb ging sie langsam zurück ins Haus.
»Warum hast du deiner Familie von meiner Ausstellung erzählt?«, fragte sie und überlegte, ob sie gerade versuchte, einen Streit vom Zaun zu brechen. Um Peter dafür zu bestrafen, dass er sie beide zwang hierzubleiben.
»Ich fand, sie sollten es wissen. Sie tun immer so, als würde deine Arbeit nichts gelten.«
»Du doch auch.« Clara war sauer.
»Wie kannst du so etwas sagen!« Er wirkte verletzt, und ihr war klar, dass sie das nur gesagt hatte, um ihm wehzutun. Sie wartete darauf, dass er mit dem Argument kam, er hätte sie all die Jahre unterstützt. Er hätte dafür gesorgt, dass sie ein Dach über dem Kopf hatten und dass etwas zu essen auf dem Tisch stand. Aber er schwieg, was sie nur noch mehr ärgerte.
Als er sich zu ihr umdrehte, entdeckte sie einen Klecks Schlagsahne auf seiner Wange, der aussah wie ein großer Pickel. Es hätte genauso gut ein Flugzeug sein können, so merkwürdig war es, an ihrem Mann etwas zu sehen, das nicht dorthin gehörte. Er sah immer gepflegt aus, immer ordentlich. Seine Sachen waren nie zerknittert, seine Bügelfalten messerscharf, nie war da ein Fleck oder ein fehlender Knopf. Wie hieß dieses Dings bei Star Trek? Traktorstrahl? Nein, nicht das. Der Schutzschild. Peter ging mit einem aktivierten Schutzschild durchs Leben, der jeden Angriff durch Essen, Getränke oder Menschen abschmetterte. Clara fragte sich, ob es in seinem Kopf eine Stimme gab, die genau in diesem Moment mit schottischem Akzent rief: »Capt’n, der Schutzschild ist ausgefallen. Ich kann ihn nicht aktivieren.«
Peter, der liebe, gute Peter, bekam von dem kleinen, außerirdischen weißen Etwas in seinem Gesicht jedoch nichts mit.
Sie wusste, dass sie etwas sagen oder es wenigstens wegwischen sollte, aber sie hatte die Nase voll.
»Was ist?«, fragte Peter und sah gleichzeitig besorgt und ein bisschen ängstlich aus. Auseinandersetzungen machten ihn immer völlig hilflos.
»Du hast deiner Familie das mit Fortin erzählt, um sie zu ärgern. Vor allem Thomas. Es hatte nichts mit mir zu tun. Du hast meine Arbeit als Waffe benutzt.«
Capt’n, sie bricht auseinander.
»Wie kannst du so etwas nur sagen?«
Aber er klang unsicher, und auch das war sie nicht gewohnt.
»Bitte sprich mit ihnen nicht mehr über meine Arbeit. Besser gesagt, sprich über nichts, was mich angeht, mit ihnen. Es interessiert sie nicht, und mir tut es nur weh. Das sollte es vermutlich nicht, ist aber so. Wäre das möglich?«
Sie bemerkte, dass seine Hosentasche immer noch nach außen hing. Es gab wenig, was sie an ihm jemals so beunruhigt hatte.
»Es tut mir leid«, sagte er schließlich. »Aber das hatte nichts mit Thomas zu tun. Nicht mehr. Ich glaube, ich habe mich mittlerweile an ihn gewöhnt. Es war wegen Julia. Das Wiedersehen mit ihr hat mich irgendwie aus dem Gleis gebracht.«
»Sie macht doch einen ganz netten Eindruck.«
»Das trifft auf uns alle zu.«
»Noch zwanzig Stunden«, sagte Clara und sah auf ihre Uhr, dann hob sie die Hand und wischte die Sahne von seiner Wange.
Auf ihrem Weg zum Haus hörten die Gamaches jemanden nach ihnen rufen und blieben stehen.
»Hier sind Sie!«, keuchte Madame Dubois, in der Hand einen Korb mit Gartenkräutern. »Ich habe am Empfang eine Nachricht hinterlassen. Ihr Sohn hat aus Paris angerufen. Er sagte, er wäre heute Abend nicht zu Hause, würde es aber später noch einmal versuchen.«
»Schade«, sagte Gamache. »Nun, irgendwann wird es schon klappen. Vielen Dank. Darf ich Ihnen das abnehmen?« Er streckte die Hand aus, und nach kurzem Zögern überließ ihm die alte Frau den Korb mit einem dankbaren Lächeln.
»Es wird langsam heiß«, sagte sie, »und die Schwüle macht mir zu schaffen.« Sie drehte sich um und marschierte in einem verblüffenden Tempo den Pfad hinauf.
»Madame Dubois.« Gamache ertappte sich dabei, wie er hinter einer Frau von mindestens hundertzwanzig Kilo herhechelte. »Wir haben eine Frage.«
Sie blieb stehen und wartete auf ihn.
»Wir haben uns gefragt, wofür der Marmorblock ist.«
»Welcher Marmorblock?«
»Pardon?«, sagte Gamache.
»Pardon?«, sagte Madame Dubois.
»Na, dieses große Ding aus Marmor da hinten, auf der anderen Seite des Manoir. Ich habe es vergangene Nacht dort stehen sehen und heute Morgen wieder. Ihre junge Gärtnerin wusste nicht, wofür es ist, und Pierre meinte, wir sollten Sie fragen.«
»Ach so, dieser Marmorblock«, sagte sie, als gäbe es noch andere. »Nun ja, wir hatten großes Glück. Wir …«, sie murmelte irgendetwas und eilte weiter.
»Entschuldigen Sie, was