Ein Lord wie kein anderer. Inka Loreen Minden
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Emily erschauderte. Nach dem Genuss von zu viel Alkohol hatte Edward gerne geredet … und andere Dinge getan. Zum Glück hatte sie in ihrer Zofe Mary Wentworth eine Verbündete gefunden, die ihre Briefe herausgeschmuggelt hatte.
Ohne den heimlichen Kontakt zu Claire wäre Emily verrückt geworden. Ihre Freundin wusste, was ihr Mann für ein Monster gewesen war, aber sie kannte nicht alle Details. Emily wollte das unbeschwerte Leben ihrer einzigen Vertrauten nicht beflecken.
Emily hatte auch Daniel nicht belogen, als sie ihm die Geschichte mit dem Verkauf von Edwards Haus sowie seines gesamten Besitzes erzählt hatte. Davon stimmte jedes Wort. Gewisse Einzelheiten musste sie auch ihm nicht auf die Nase binden.
Emily bebte am ganzen Körper, als sie Claire ein letztes Mal umarmte und sich anschließend vom Kutscher auf den Zweispänner – den sie für Ausflugsfahrten mit der ganzen Familie nutzten – helfen ließ. Dann ging es auch schon los, und sie rumpelten über die Pflastersteine in Richtung Mayfair.
Emily hüllte sich in eine Decke und blickte sich so lange winkend um, bis das kleine Haus der Bloomburys und auch Claire nicht mehr zu sehen waren. Danach konzentrierte sie sich ganz auf ihre bevorstehende Arbeit. Hoffentlich machte sie ihre Sache gut, damit Daniel sie behielt. Sie würde sich auf jeden Fall große Mühe geben, damit sie irgendwann ihren Traum von einem eigenen Leben verwirklichen konnte.
***
Laut ihrer Taschenuhr – die sie von ihrem Vater vererbt bekommen hatte und immer in ihrem Beutel mit sich trug, wenn sie unterwegs war, erreichte sie kurz nach acht Uhr die Stadtvilla von Lord Hastings. Bestimmt schlief Daniel zu dieser Zeit noch, auch wenn sie sich beobachtet glaubte, was sie sich gewiss einbildete. Hinter den Vorhängen der großen Fenster nahm sie keine Bewegung wahr.
Nachdem ihr der Fahrer von der Kutsche geholfen und die große braune Tasche zur Tür getragen hatte, erwartete sie wieder der alte Mr Smithers. Er wies sofort einen jüngeren Diener mit Vornamen Henry an, Emilys Gepäck zu nehmen und es nach oben in die Räume des Kindermädchens zu bringen.
Sie folgte dem schlanken, braunhaarigen Mann, der ihr beim letzten Besuch den Tee gebracht hatte, drei Stockwerke hinauf fast bis unters Dach. So viele Stufen zu nehmen, war sie gar nicht gewohnt, und sie musste tief durchatmen, als sie einen düsteren, niedrigen Flur erreichten. Die Wände des vorletzten Stockes waren bei Weitem nicht so hoch wie in den tieferen Etagen. Sechs Türen führten vom Gang ab, darunter eine, deren Treppe bis ganz unters Dach reichte. In der Mansarde schlief für gewöhnlich die weibliche Dienerschaft, jedoch nicht die Nanny. Diese bewohnte mit den Kindern eigene Räume, wie Emily wusste.
Henry betrat gleich das zweite Zimmer auf der linken Seite und stellte ihre Tasche auf dem Bett ab, bevor er Emily wieder verließ – nicht ohne noch einen kurzen Blick in den Nebenraum zu werfen, aus dem sie die Stimme einer Frau hörte.
Emily musste sofort ihre neue Umgebung bewundern. Mit solch einer geräumigen Unterkunft hatte sie nicht gerechnet, eher mit einer engen Dachkammer. Sie war hell, freundlich und modern eingerichtet, mit einer Tapete, die in rosa- und perlmuttfarbenen Streifen schimmerte, und einem breiten Bett, das einen verschnörkelten gusseisernen Rahmen besaß. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Kinder gemeinsam mit der Nanny in einem Bett schliefen, und Emily war gespannt, wie es hier gehalten wurde.
Vor dem Fenster, das einen herrlichen Ausblick in den Garten ermöglichte, stand ein Sekretär, auf dem Papier und Feder bereitlagen; es gab zwei große Kommoden und einen kleinen Esstisch mit einem normalen Stuhl sowie einem Kinderhochstuhl. Kerzen, eine Öllampe und eine Waschgelegenheit entdeckte sie ebenfalls, sowie Handtücher, Schürzen und alles, was eine Nanny brauchte. Das würde also von nun an ihr Reich sein. Emily gefiel es.
Jetzt wollte sie aber endlich Sophia kennenlernen. Sie legte ihren Hut auf das Bett mit der wunderschönen Überdecke mit rötlichem Paisleymuster. Emily besaß einen Schal in fast derselben Farbe.
Eine zweite, offen stehende Tür führte ins geräumige Kinderzimmer, das mit einem dicken Teppich ausgelegt war, wohl um die Laute der trampelnden Füßchen zu dämpfen. Zwischen zahlreichen Spielsachen standen ein kleines Kojenbett, ein Schrank und ein Schaukelstuhl sowie ein paar Kindermöbel. Mittendrin kniete eine brünette junge Frau, die ihr Haar zu einem Zopf geflochten hatte, auf dem Boden. Emily schätzte sie auf höchstens zwanzig Jahre. Vor ihr saß ein kleines schwarzhaariges Mädchen, das mit Buchstabenwürfeln spielte. Das musste die einjährige Sophia sein. Mit dem runden Gesicht und den leicht geröteten Pausbacken sah sie wie ein Engelchen aus. Ob sie ihrer Mutter ähnelte? Das leicht störrische Kinn und das dunkle Haar schien sie auf jeden Fall von Daniel geerbt zu haben.
Als Emily eintrat, stand die Frau sofort auf und begrüßte sie. »Sie müssen Mrs Rowland sein. Ich bin Lizzy Brooks, Sophias Nanny.« Eine kleine Tasche, ähnlich wie die von Emily, stand an der Tür des Zimmers.
Emily reichte ihr die Hand. »Sehr erfreut, Lizzy.«
Die junge Frau machte einen lieben Eindruck und erklärte ihr den Tagesablauf mit Sophia und weitere Dinge. Emily erfuhr, dass Lizzy diese Anstellung schweren Herzens aufgeben musste, damit sie sich um ihre kranke Mutter kümmern konnte. Mit dem Gehalt, das sie in einem Jahr verdient hatte, würde sie wohl eine Weile auskommen. Wie ihr die junge Frau außerdem verriet, hatte Daniel ihr sogar noch einen Bonus gezahlt.
»Der Earl ist ein wirklich edler Mensch«, erzählte sie Emily. »Ihnen wird es hier gefallen.« Lizzy wies auch darauf hin, dass Lord Hastings jeden Tag, nachdem er seinen Tee im Blauen Salon eingenommen hatte, einen kurzen Bericht über Sophias Entwicklung erwartete.
Emily runzelte die Stirn. Daniel konnte doch selbst sehen, wie weit seine Tochter bereits entwickelt war? Sicher wollte er diese zauberhafte kleine Lady, die in ihrem Puffärmelkleid wie eine Prinzessin aussah, so oft im Arm halten wie möglich. Allerdings wusste sie, dass sich vor allem der Hochadel nicht wirklich um die Erziehung seiner Kinder kümmerte, sondern diese allein in die Hände der Nanny und später der Gouvernante legte. Emily fände es schade, wenn es bei Daniel auch so wäre. Sie war ihren Eltern heute noch dankbar, dass diese sie nicht völlig von der Welt der Erwachsenen abgeschottet hatten.
Die Frage lautete eher: Wo befand sich der Blaue Salon? Die Villa war riesig! Emily würde sich erst einmal zurechtfinden müssen.
Sie verwarf den Gedanken an das große Haus, weil Lizzy unaufhörlich redete. »Und das hier ist Sophias Lieblingsbuch, Mrs Rowland.« Das Kindermädchen hielt ihr eine vergilbte Ausgabe von »Das Leben und die Abenteuer einer Maus« entgegen.
»Oh, das mochte ich als Kind auch sehr gerne.« Das zerfledderte Heft enthielt die autobiografische Erzählung der Maus Nimble, die über ihre Begegnungen mit frechen Kindern und deren gemeine Scherze berichtete. Die Geschichte handelte von Tapferkeit und dass man Tieren gegenüber Respekt zeigen und ihnen keine Blechdosen an den Schwanz binden sollte. Zum Entsetzen ihrer Mutter hatte Emily damals drei Mäuschen in ihrem Puppenhaus wohnen lassen und sie mit Käse gefüttert, den sie aus der Küche stibitzt hatte. Danach hatte ihre Mutter das Buch verbrannt, worüber Emily sehr traurig gewesen war.
»Am liebsten bekommt sie vor dem Einschlafen vorgelesen«, erzählte Lizzy weiter. »Wir sitzen