Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel. Nadine Erdmann

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Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann Die Totenbändiger - Die gesamte Staffel

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Drei, höchstens vier Jahre alt.

      Phils Herz zog sich zusammen.

      So alt wie Jules und Ella, die oben in ihren Zimmern schliefen und denen er vor dem Zubettgehen flauschige Schlafanzüge und Ednas selbstgestrickte Wollsocken angezogen hatte, weil die Nacht so bitterkalt werden sollte.

      Der Kleine vor ihm trug nur ein verdrecktes dünnes T-Shirt, das einmal weiß gewesen war, und eine kurze graue Trainingshose. Sein Haar war pechschwarz und verfilzt, seine Haut kaum sauberer als seine Kleider. Er hatte blaue Flecken, Kratzer und Schürfwunden in verschiedenen Stadien an Armen und Beinen, tiefe Schatten lagen unter seinen Augen und ein dünnes Rinnsal Blut war irgendwann in den letzten Stunden aus seiner Nase gesickert. Über seine linke Schläfe zogen sich die feinen schwarzen Linien, die alle Totenbändiger von Geburt an zeichneten und so der Welt verrieten, was sie waren.

      Phil seufzte innerlich und während ein Teil von ihm mit Mitgefühl für den Jungen und unbändigem Hass auf diejenigen kämpfte, die ihm das angetan hatten, hatte ein anderer Teil bereits in den Medizinermodus umgeschaltet und seine Finger suchten am Hals des Kleinen nach seinem Puls. Er konnte nicht tot sein, sonst wäre Thaddeus im Auto von seinem Geist angegriffen worden. Doch die Frage war, wie viel Leben noch in ihm war und ob sie ihn noch retten konnten.

      »Und?«, fragte Thaddeus angespannt und hoffte, dass er auf dem Weg hierher nicht umsonst so gut wie jede Verkehrsregel gebrochen hatte. Zum Glück traute sich in Unheiligen Nächten kaum jemand vor die Tür und auf den Straßen war nichts los gewesen.

      »Sein Herz schlägt noch. Aber nur gerade so.« Phil zog seine Hand zurück und wandte sich zu Sue um. »Ich denke, er braucht dich jetzt mehr als mich.«

      Sie nickte sofort und kniete sich neben dem Kleinen vor die Couch. Vorsichtig schob sie sein T-Shirt hoch, wobei noch mehr Blutergüsse zum Vorschein kamen. Doch sie zwang sich, alle negativen Gefühle beiseitezuschieben, und legte ihre linke Hand sanft auf sein Herz. Energieübertragung funktionierte am besten bei direktem Hautkontakt. Ihre rechte legte sie auf seine Stirn. Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf ihren Herzschlag und ihre Atmung.

      Machte sich bewusst, wie das Leben durch ihren Körper strömte.

      Kraftvoll und ungehemmt.

      Suchte nach derselben Energie im Körper des Kleinen – und prallte mental zurück.

      Unsagbare Angst.

      Das Gefühl traf sie so heftig, dass sie beinahe nicht nur mental, sondern auch körperlich zurückgewichen wäre.

      Was immer diesem Kind widerfahren war, es hatte Todesängste ausgestanden und ein Echo dieser Angst hallte noch immer in ihm nach.

      Sue schluckte und widerstand dem Drang, darüber nachzugrübeln, was ihn so verängstigt haben mochte. Sie brauchte ihre Konzentration, denn das Wichtigste war jetzt, dem Kleinen das Leben zu retten. Um seine Psyche konnten sie sich danach kümmern.

      Wieder streckte sie ihre Lebensenergie nach dem Jungen aus und suchte nach seiner. Die musste irgendwo sein, sonst hätte sie seine Angst nicht fühlen können.

      Es dauerte, doch schließlich fand sie einen kaum spürbaren Rest, völlig versteckt, wie ein verängstigtes Tier, das sich unendlich tief in seine Höhle verkrochen hatte. Rasch legte sie Wärme und das Gefühl von Sicherheit in ihre Energie und stupste damit sanft an seine. Der Kleine zögerte, ließ die Vereinigung dann aber zu, und als er spürte, dass es etwas Gutes war, stürzte er sich wie ausgehungert darauf und sog dankbar alles, was sie ihm gab, in sich auf.

      Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

      »Ich hab ihn«, sagte sie, damit die anderen sich keine Sorgen mehr darüber machen mussten, ob der Kleine es schaffen würde. »Und er ist ein Kämpfer. Er will leben.«

      »Gutes Kind. Dann geh ich jetzt mal und sorge für Tee und heiße Schokolade.«

      Sue hörte, wie Edna das Wohnzimmer verließ, hielt aber die Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz auf den Fluss ihrer Lebensenergie. Der Junge sog sie in sich auf wie ein Erstickender, dem man eine Maske mit rettender Atemluft aufgesetzt hatte. Es war ein Reflex. Er war bewusstlos und konnte es nicht steuern. Deshalb musste sie aufpassen, dass er nicht zu viel von ihr nahm und sie dadurch tötete. Sie spürte bereits, wie ihre Kräfte schwanden.

      Als sich ein leichtes Schwindelgefühl in ihrem Kopf einstellte und es hinter ihren Schläfen zu pochen begann, trennte sie behutsam die energetische Verbindung.

      Es überraschte sie, wie bereitwillig der Junge sie losließ. Die meisten, denen sie Lebensenergie schenkte, klammerten und wollten mehr. Der Kleine dagegen ließ sie sofort gehen und zog sich wieder in seine Höhle zurück.

      Sue öffnete die Augen.

      Hauchfeiner Silbernebel umspielte ihre Hände, die noch immer auf Stirn und Brust des Jungen lagen. Als sie sie fortzog, verweilten die zarten Schwaden über seiner Haut, bis sie sich langsam verflüchtigten.

      »Ungewöhnlich«, murmelte Phil, der die beiden keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. »Warum hat er nicht versucht, den Rest deiner Energie auch noch aufzusaugen?«

      »Ich glaube, er hat gelernt, sich mit dem zu begnügen, was er bekommt, und nicht zu wagen, mehr zu erwarten.«

      Liebevoll strich Sue dem Kleinen über das verfilzte Haar und stand dann auf, um ihrem Mann Platz zu machen. Ihr war kalt und sie fühlte sich zittrig. Kopfschmerzen pochten hinter ihren Schläfen und sie schwankte leicht, weil ihr schwindelig war und ihre Beine sich wie Pudding anfühlten.

      Phil half ihr zu einem der Sessel beim Kamin. »Ruh dich aus.« Er küsste ihre Stirn, legte eine Wolldecke um sie und reichte ihr ein Glas Wasser.

      Dankbar trank sie einen Schluck und deutete zu dem Kleinen. »Ich konnte keine schlimmen Schmerzen bei ihm spüren. Er hat also keine inneren Verletzungen oder Knochenbrüche. Er ist aber schrecklich geschwächt und ausgehungert. Und völlig verängstigt. Er muss Todesängste ausgestanden haben, bevor er das Bewusstsein verloren hat.«

      Phil setzte sich zu dem Jungen, holte das Stethoskop aus seiner Arzttasche und überprüfte Herzschlag und Atmung seines kleinen Patienten. Beides war regelmäßig und kräftiger als zuvor, doch die Lungen hörten sich nicht gut an. Er zog eine Stiftlampe hervor und leuchtete dem Kleinen in die Augen. Die Pupillen reagierten sofort und zogen sich zusammen. Das war ein gutes Zeichen.

      »Erzähl uns, was passiert ist und wo du ihn gefunden hast«, bat Phil Thad, während er die Körpertemperatur des Jungen maß. »Dein kryptischer Anruf war nämlich nicht sehr aufschlussreich.«

      »Ich komme mit einem Jungen zu dir, den ich an einem Tatort gefunden hab. Ich dachte zuerst, er wäre tot wie die anderen. Aber ich glaube, er ist nur bewusstlos. Du musst ihm helfen, Phil. Und weck Sue. Der Kleine ist ein Totenbändiger.«

      Das waren die gehetzten Worte gewesen, die Phil um kurz nach halb drei aus dem Schlaf gerissen hatten. Doch Thad hatte so schnell wieder aufgelegt, dass keine Zeit für Nachfragen geblieben war.

      Edna kam mit einem Tablett zurück ins Zimmer. Sie stellte ihrem Sohn eine Schüssel mit warmem Wasser hin und legte ein paar Tücher zum Waschen, einen Schlafanzug und dicke Socken daneben. Dann brachte sie ihrer Schwiegertochter eine Tasse mit heißer Schokolade. Zucker würde ihr helfen, die verlorene Energie schneller zu regenerieren.

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