Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel. Nadine Erdmann
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Manchmal wurden Totenbändiger jedoch auch in unbefleckte Familien geboren, waren dort jedoch in der Regel nicht willkommen. Wer wusste schon, ob sie ihre tödlichen Kräfte wirklich nur gegen Geister und Wiedergänger einsetzten? Und selbst wenn sie nur das taten, wer konnte sagen, was es mit ihrer Psyche oder ihrer Seele machte, wenn sie die Todesenergie der Seelenlosen schluckten?
Niemand wollte eine tickende Zeitbombe in der Familie haben.
Niemand wollte soziale Ächtung und Ausgrenzung erfahren.
Da die meisten Menschen so dachten, stand es nicht unter Strafe, Babys zu töten, die als Totenbändiger zur Welt kamen. Und quälte oder tötete man einen Totenbändiger, weil man sich von ihm bedroht fühlte, kam es nie zu einem Prozess.
»Werdet ihr ermitteln?« Sue wusste, dass Thaddeus auf ihrer Seite stand. Er kämpfte als Polizist immer wieder gegen Geister und Wiedergänger und sah in Totenbändigern wertvolle Unterstützer, deren Fähigkeiten man nutzen sollte, statt ihnen mit Misstrauen zu begegnen oder sich vor ihnen zu fürchten. Doch er war nur ein einfacher Sergeant und seine Bosse entschieden, welche Fälle bearbeitet wurden. Und bei seinen Bossen standen tote Obdachlose und Totenbändigerkinder auf der Prioritätenliste vermutlich nicht besonders weit oben.
Doch Thad nickte mit grimmiger Entschlossenheit. »Auf jeden Fall. Wer immer das getan hat, ist ein kranker Massenmörder, und er läuft frei in London herum. Ihn nicht zu suchen, wäre absolut verantwortungslos.«
»Allerdings!«, stimmte Edna ihm aus tiefstem Herzen zu.
Phil hatte auch Füße und Beine des Jungen notdürftig gesäubert und zog ihm jetzt Schlafanzughose und Socken an. »Willst du, dass ich mit zum Tatort komme?« Er wickelte seinen kleinen Patienten in eine Wolldecke und strich ihm sanft über Stirn und Haar. »Wenn es so viele Tote gibt, könnt ihr Unterstützung gebrauchen. Eure Gerichtsmediziner werden alleine Tage brauchen, um bei allen Leichen den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen. Und um die Kinder wird sich vermutlich gar keiner kümmern.«
Sofort schüttelte Thad den Kopf. »Du kommst auf keinen Fall mit mir. Und es darf niemand wissen, dass ich hier gewesen bin.« Er beugte sich vor und blickte ernst von einem zum anderen. »Der Junge ist der einzige Zeuge dieses Massakers. Ich weiß, er ist noch sehr jung. Vermutlich zu jung, als dass er eine Aussage machen könnte, die uns helfen würde, den Täter zu finden. Aber das weiß dieser Irre nicht. Sollte er erfahren, dass eins der Kinder überlebt hat, wird er sicher alles daransetzen, den Kleinen zum Schweigen zu bringen.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann sagte Sue: »Du willst, dass wir ihn in unserer Familie verstecken.«
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Thaddeus atmete schwer durch. »Ich weiß, ich bitte euch damit um sehr viel. Aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um euch zu unterstützen. Außer mir und meinem Boss weiß niemand, dass der Kleine überlebt hat, und Oswald können wir hundertprozentig vertrauen. Er setzt sich genauso für die Gleichstellung von Totenbändigern ein wie ich. Offiziell ist der Kleine mit den anderen Kindern gestorben. Da es keinerlei Vermisstenanzeigen gibt, die auf ihn oder eins der anderen Kinder passen, gehen wir davon aus, dass sie nicht aus Totenbändigerfamilien stammen. Vermutlich hat dieser Irre sie als Babys irgendwelchen Müttern abgenommen, die froh waren, sie so schnell wie möglich loszuwerden. Dann hat er die Kinder großgezogen, um mit ihnen im Unheiligen Jahr irgendwelche kranken Experimente zu machen. Aber das ist nur meine Vermutung. Noch wissen wir so gut wie gar nichts, außer dass der Kleine mit Sicherheit in Gefahr ist, wenn der Täter erfährt, dass er noch lebt und reden könnte.«
Thaddeus blickte zu Phil. »In ein paar Tagen könntest du sagen, dass jemand den Jungen in deiner Notfallambulanz abgegeben hat. Erzähl allen, die fragen, dass seine Mutter eine Totenbändigerin war, die als Wächterin an den Grenzen des Vergnügungsviertels im West End gearbeitet hat. Dort ist sie heute in der Unheiligen Nacht gestorben. Zu viele hungrige Geister, zu wenig Personal. Das glaubt jeder sofort. Sie war alleinerziehend und hat ihren Sohn während ihrer Schichten zu Hause gelassen. Nachbarn hatten ein Auge auf ihn, und als die Mutter nicht zurückkam, haben sie den Kleinen zu dir in die Ambulanz gebracht, weil sie wissen, dass du schon zwei Totenbändigerkinder in deiner Familie aufgenommen hast. Sollten Rückfragen kommen, unterstützen Oswald und ich diese Geschichte und wir besorgen euch alle nötigen Papiere. Obwohl ich nicht glaube, dass irgendjemand nachfragen wird. So traurig wie es ist, es wird niemanden interessieren, wo ein kleiner Totenbändiger herkommt und was ihm widerfahren ist.«
Wieder sah Thaddeus zwischen seinen Freunden hin und her. »Wie gesagt, ich weiß, ich bitte euch um sehr viel. Aber der Junge hat niemanden, ihr seid fantastische Eltern und diese Familie hält zusammen wie Pech und Schwefel. Nach allem, was der Kleine durchgemacht haben muss, hat er ein Zuhause wie dieses hier verdient, und ich weiß, dass er bei euch in Sicherheit wäre.«
Sue und Phil tauschten einen Blick und sahen dann zu Edna. Doch bevor die etwas sagen konnte, erklang eine Stimme vom Durchgang zum Flur.
»Wir können ihn nicht wegschicken.«
Alle fuhren herum und Phil seufzte, als sein Ältester ins Wohnzimmer kam, jenen sturköpfigen Ausdruck im Blick, den er in den letzten Monaten perfektioniert hatte.
»Wie lange hast du uns schon belauscht?«, fragte er den Elfjährigen und fühlte sich zu müde und ausgelaugt, um die eigentlich nötige Vaterstrenge in Blick und Stimme zu legen.
»Lange genug, um zu wissen, dass ein Irrer dem Kleinen wehgetan hat, weil er ein Totenbändiger ist.« Gabriel trat ans Sofa und betrachtete den bewusstlosen Jungen. Sofort ballte er wütend die Fäuste. »Er ist noch so klein. Warum hassen die Leute uns so sehr? Wir haben niemandem etwas getan!«
Sue stand aus ihrem Sessel auf und zog ihren Sohn in ihre Arme. Zärtlich streichelte sie ihm durch die vom Schlaf zerzausten Haare und fuhr mit dem Daumen über die schwarzen Linien an seiner Schläfe.
»Weil viele Menschen dumm sind und das fürchten, was sie nicht verstehen. Und sie vorverurteilen lieber andere, statt sich mit ihren eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen.«
Gabriel löste sich aus ihrer Umarmung, lehnte sich aber an sie und schaute von ihr zu seinem Dad und seiner Grandma. »Ihr werdet ihn nicht wegschicken, oder? Ella und mich habt ihr auch aufgenommen. Und Thad hat gesagt, der Kleine hat niemanden. Wo soll er denn dann hin? In die Akademie? Mum, du hasst die Akademie!«
Die drei Erwachsenen tauschten erneut einen Blick und waren sich wortlos einig.
»Nein«, sagte Sue entschieden. »Er kommt ganz sicher nicht in die Akademie. Er wird bei uns bleiben.«
Erneut ballte Gabriel die Fäuste, aber diesmal nicht aus Wut, sondern um mit ihnen triumphierend in die Luft zu boxen. »Yes!«
Sue fasste ihren Sohn bei den Schultern und drehte ihn zu sich um, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. »Aber du hast gehört, was Thad gesagt hat. Niemand darf wissen, wer der Kleine wirklich ist. Das heißt, du darfst niemandem erzählen, was du heute Nacht hier gehört hast, verstanden?« Sie maß ihn mit ernstem Blick.
Gabriel nickte gewissenhaft. »Ja, ich weiß. Und ich verspreche, ich passe auf, dass ihm keiner mehr wehtut.« Dann wandte er sich zu dem Kleinen um. »Darf ich ihm was von meiner Lebensenergie geben, damit er schnell wieder gesund wird?«
Sue lächelte gerührt und gab ihm einen Kuss auf den strubbeligen Hinterkopf. »Okay. Aber ich zähle. Bis zehn, dann trennst