Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel. Nadine Erdmann

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Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel - Nadine Erdmann Die Totenbändiger - Die gesamte Staffel

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      Edna drückte ihr die Schulter und schüttelte den Kopf. »Nein, Liebes. Du hast gerade einem Kind das Leben gerettet. Heiße Schokolade ist da das Mindeste, was ich für dich tun kann.«

      Dann trat sie zu Thad und reichte ihm einen Tee. »Das Gleiche gilt für dich, aber ich weiß, du trinkst lieber Tee. Und Phil hat recht. Erzähl uns, was passiert ist. Aber sag bitte nicht, dass irgendwelche Spinner durchgedreht sind, weil heute die erste Unheilige Nacht in diesem verdammten Unheiligen Jahr ist.«

      Sie stellte ihrem Sohn ebenfalls einen Tee hin und setzte sich mit einer eigenen Tasse neben Sue in den zweiten Kaminsessel.

      Ächzend wischte Thad sich über die Augen und wirkte mit einem Mal deutlich älter als Anfang dreißig. »Ich wünschte, es wäre nicht so. Aber in Unheiligen Zeiten spielen sich so viele kranke Dinge ab …« Er brach ab und schüttelte den Kopf.

      Seit Menschengedenken entstanden Geister, wenn ein Mensch einen gewaltsamen Tod fand. Dabei war es nicht von Bedeutung, ob der Tod absichtlich herbeigeführt wurde, wie bei einem Mord, oder er durch einen Unfall geschah. Wurde ein Mensch gewaltsam aus dem Leben gerissen und starb nicht friedlich im hohen Alter oder durch eine schwere Krankheit, entstand ein Geist. Diese Wesen hatten nichts mehr mit der Person gemein, aus der sie entsprungen waren. Sie waren Seelenlose, die einzig und allein nach dem Leben gierten, das ihnen abrupt genommen worden war. Deshalb stürzten sie sich erbarmungslos auf jeden erreichbaren Menschen, um ihm seine Lebensenergie zu rauben.

      So wie es seit Menschengedenken Geister gab, gab es in jedem Jahr auch vier Unheilige Nächte, in denen die Seelenlosen besonders aggressiv und gefährlich waren. In den Nächten des Frühlings- und Herbstäquinoktiums, zu Samhain und in der Nacht der Wintersonnenwende wagte sich niemand, der nicht unbedingt musste, aus dem Haus.

      Alle dreizehn Jahre erstarkten Geister und Wiedergänger zudem und verhielten sich ein gesamtes Jahr lang noch angriffslustiger und grausamer als sonst. Warum das so war, wusste niemand, doch es hatte diesen Jahren den Namen Unheiliges Jahr eingebracht. In den Unheiligen Nächten eines Unheiligen Jahres potenzierte sich die Gefahr, die von den Seelenlosen ausging, noch einmal ins Unermessliche, und leider rief genau dieser Umstand immer wieder Verrückte und Fanatiker auf den Plan, die mit fehlgeleiteten oder kranken Weltvorstellungen irrsinnige und gemeingefährliche Dinge taten.

      Phil warf einen mitfühlenden Blick zu Thaddeus, während er sacht das getrocknete Blut von der Nase des Jungen wischte. Thaddeus war auf das zweite Sofa gesunken, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und hielt sein Gesicht in den Händen vergraben. Im letzten Unheiligen Jahr hatte er seine Eltern verloren. Damals war Thad gerade achtzehn gewesen und es hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.

      »Hilf uns«, bat Phil sanft, während er weiter das Gesicht des Jungen säuberte, der ohne den Schmutz noch viel bleicher wirkte als zuvor. »Erzähl uns, was passiert ist, damit wir dem Kleinen helfen können. Dann wirst auch du dich sicher besser fühlen.«

      Als Arzt hatte Phil schon viele schlimme Dinge gesehen und auch privat kämpfte er immer wieder an Fronten, die ihn oft an seinen Mitmenschen und der Gesellschaft zweifeln ließen. Doch welche Grausamkeiten und menschlichen Abgründe Thaddeus als Polizist bei der Abteilung für Gewaltverbrechen aushalten musste, wollte er sich gar nicht vorstellen.

      Thad presste einen Moment lang seine Finger auf die Augen, um sich zu sammeln. Als er wieder aus seinen Händen auftauchte, warf er einen Blick zum Durchgang in den Flur.

      »Schlafen die Kinder? Sie sollten das hier nicht hören.«

      Edna nickte. »Keine Sorge, sie sind oben in ihren Zimmern.«

      Thaddeus atmete tief durch. »Erinnert ihr euch an all die Vermissten aus den Armenvierteln?«

      Böses ahnend nickte Phil langsam. Er arbeitete mit zwei Kolleginnen und einem Kollegen in einer Gemeinschaftspraxis des Hampstead Health Centres, übernahm aber jeden Freitag unentgeltlich eine Schicht in einer Notfallambulanz im East End, einem der schlimmsten sozialen Brennpunkte der Stadt. Seit Beginn des Jahres waren dort und in anderen Armenvierteln vermehrt Obdachlose verschwunden. In einem harten Winter nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches. Viele starben in ihren notdürftigen Verstecken an der Kälte und wurden oft wochenlang nicht gefunden. Außerdem besaßen die meisten, die sich auf der Straße durchschlagen mussten, kaum Mittel, um sich vor Geistern zu schützen. Das war schon in normalen Jahren für viele Obdachlose tödlich. In einem Unheiligen Jahr erst recht. Doch die schiere Anzahl an Menschen, die in den Armenvierteln plötzlich verschwunden waren, hatte schließlich doch Aufmerksamkeit erregt, weil die Einwohner Londons sich vor einer Flut möglicher neuer Geister fürchteten.

      »Wir haben sie heute Nacht gefunden«, fuhr Thad fort. »Im Keller eines leer stehenden Herrenhauses am Wimbledon Park. Und es waren deutlich mehr als die knapp dreißig, von denen wir wussten.«

      »Wie viele?«, fragte Sue.

      »Das stand noch nicht fest, als ich zu euch gefahren bin, aber mit Sicherheit doppelt so viele. Man hat ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Vermutlich erst heute Nacht. Irgendein Irrer hat in diesem Keller ein Blutbad angerichtet.« Thad ballte die Hände zu Fäusten. »Und mitten drin waren die Kinder.«

      Er blickte zu dem Jungen, dem Phil das T-Shirt ausgezogen hatte, um seinen Oberkörper zu waschen. Seine Rippen schienen durch die blasse Haut stechen zu wollen, so dürr war der kleine Kerl. Aber man konnte sehen, wie die schmale Brust sich hob und senkte, und das war es, was zählte.

      »Es waren sechs. Drei Mädchen und drei Jungen.« Thads Stimme klang bitter. »Alle waren Totenbändiger und ähnlich alt wie der Kleine. Sie waren in Holzkisten eingesperrt. Kaum ein Meter mal ein Meter. Sie konnten nicht mal darin stehen und hatten nichts bei sich außer einer Decke und einer Wasserflasche.«

      Edna zischte eine Verwünschung und spuckte ins Feuer.

      »Alle hatten Nasenbluten, blaue Flecken, Kratzer und Schürfwunden. Äußerlich nichts Ernstes, aber sie sind alle tot. Außer dem Kleinen. Ich hab auch ihn erst für tot gehalten. Sein Puls war wohl zu schwach. Doch dann konnte ich in der verdammten Kälte seinen Atem sehen.«

      Phil versuchte, ruhig und professionell zu bleiben und die Informationen zu ordnen, die Thaddeus ihnen gab, während in seinem Inneren Wut und Mitgefühl tobten. Er war froh, dass seine Hände etwas zu tun hatten, als er dem Kleinen das Oberteil des Schlafanzugs überzog, denn sonst hätte er seine Fäuste irgendwo reinschlagen müssen.

      Sue schloss die Augen und schluckte hart. »Denkst du, jemand wollte die Kinder quälen? Testen, wie viele Geister sie bändigen können, bevor sie sterben?«

      Thad hob die Schultern und nickte knapp. »Die Vermutung liegt nahe, oder?«

      Ednas Finger krallten sich um ihre Teetasse. »Es waren kleine Kinder«, grollte sie voller Abscheu.

      Phil seufzte schwer und verdrängte die Vorstellung daran, was der kleine Kerl, der jetzt hier bei ihm auf dem Sofa lag, in dieser Nacht hatte durchmachen müssen.

      Doch die schreckliche Wahrheit war, dass es solche Verbrechen gegen Totenbändiger immer wieder gab und weiter geben würde, wenn sich nicht endlich die Gesetze änderten. Totenbändiger galten als unheimlich und unberechenbar, weil sie Kräfte besaßen, mit denen sie Geister und Wiedergänger auslöschen konnten, indem sie den Seelenlosen ihre Todesenergie raubten. Dasselbe konnten Totenbändiger allerdings auch mit der Lebensenergie der Menschen tun und diese nur durch Handauflegen töten. Niemand verstand diese Kräfte und niemand wusste, woher sie kamen. Nicht einmal die Totenbändiger selbst.

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