Das Geheimnis der Madame Yin. Nathan Winters

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Das Geheimnis der Madame Yin - Nathan Winters

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sie, Madam. Ich mache Licht.“ Schon entzündete das Mädchen eine Petroleumlampe.

      Celeste öffnete eines der Fenster. Nachtluft umfing sie und blähte die roséfarbenen Vorhänge. Flirrende Wassertröpfchen kühlten ihr Gesicht. „Es ist so wunderbar ruhig hier.“ Tatsächlich schien London in einen tiefen Schlaf gefallen zu sein. Kein Klappern, Rufen, Schreien oder Stampfen. Kein Klirren von Gläsern, kein Instrument, das zum Tanz auffordert. Seit New York hatte sie keine Minute solcher Ruhe mehr erlebt.

      Celeste sah dem Dienstmädchen zu, wie es das geräumige Bett in neue Laken deckte. „Es ist schön, dass Miss Dorothea wieder daheim ist. Finden Sie nicht?“

      Francine lächelte herzlich. „Oh ja, Madam. Sie hat uns allen hier sehr gefehlt.“

      „Kannten Sie ihre Freundin? Estelle?“

      Francine hielt inne und drehte sich um. „Miss Wiggins, aber ja. Ich kannte sie gut. Sie und die junge Ladyschaft waren sehr gut miteinander befreundet. Ist es nicht schrecklich, was passiert ist?“

      Celeste spielte die Unwissende. „Was ist denn passiert?“

      „Jemand hat sie erwürgt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Können Sie sich das vorstellen?“

      „Ich glaube, niemand kann das. Wie schrecklich.“

      „Sie war eine so lebenslustige junge Frau. Sie konnte so wunderbar tanzen. Ich habe ihr ein paar Mal zusehen dürfen.“ Verträumt presste sie den Kopfkissenbezug an ihre Brust.

      „Dann gab es doch auch sicher einen Galan, der ihr den Hof gemacht hat?“

      „Oh, Miss Estelle hatte viele Verehrer.“ Francine erschrak über ihre eigenen Worte. „Oh, ich dumme Pute. Ich wollte gewiss nicht schlecht über Miss Estelle reden.“

      „Natürlich nicht.“ Celeste wartete einen Moment und fragte dann nach: „Und? Gab es jemanden?“

      Francine wurde rot. „Nein, nein. Es gab niemanden. Ich muss jetzt weitermachen. Ich darf nicht trödeln.“

      Ohne ein weiteres Wort zu verlieren kümmerte sich Francine um ihre Arbeit. Dabei presste sie die Lippen so fest aufeinander, dass keine Briefmarke mehr dazwischen gepasst hätte.

      Celeste beschloss, es gut sein zu lassen. Sie wollte nicht gleich als zu neugierig erscheinen.

      Das Dienstmädchen beendete zügig ihre Arbeit und verließ das Zimmer mit einem Knicks.

      Endlich alleine, öffnete Celeste ihre Schuhe und strampelte sie von den Füßen. Sie seufzte erleichtert. Was für eine Wohltat. Wenn nur endlich ihr Gepäck eintreffen würde. Celeste sehnte sich danach, sich endlich frisch machen zu können. Ihrem Kleid haftete der ölige Rauch von Southhampton, der Gestank der dortigen Fischerei und der Ruß einer langen Zugfahrt an.

      Sie öffnete die Knöpfe ihres Überwurfs und ließ ihn neben dem Bett auf den Boden fallen. Dann streifte sie ihre Handschuhe ab, öffnete das eng sitzende Oberteil ihres Kleides und tat zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit einen befreiten und tiefen Atemzug. Dann ließ sie sich neben ihrer Reisetasche aufs Bett fallen und sah sich in ihrem Zimmer um. „Das ist also England“, flüsterte sie, irgendwie amüsiert und dann doch wieder ernst.

      Sie öffnete ihre Tasche und sortierte den Inhalt neben sich auf dem Bett. Ein Kavallerie-Revolver und mehrere Päckchen Munition. Ein Notizbuch und die Mappe, die sie von Mrs. Roovers erhalten hatte. Ein hölzernes Kästchen, das ihre Schreibutensilien enthielt, eine kleine Tasche aus Segeltuch mit ihren Dietrichen und anderen Werkzeugen. Ihr Lieblingsbuch, die Reiseberichte von Lewis und Clarke, und ein paar Fotografien von Zuhause. Eine zeigte ihren Bruder und sie selbst. Sie standen stocksteif vor einer Leinwand in einem New Yorker Atelier. Sie erinnerte sich noch gut an diesen Tag. Sie waren so ausgelassen und fröhlich gewesen, dass erst der dritte Versuch, das Foto zu machen, geklappt hatte. Vorher hatten sie sich vor Lachen gekrümmt und den Fotografen damit in den Wahnsinn getrieben. Sie war elf gewesen und Thomas siebzehn oder achtzehn. Sie wusste es nicht mehr genau. Da hatten sie vom Krieg noch nichts geahnt.

      Sie nahm den Revolver und wog ihn in der Hand. Er war schwer und groß, ein alter Armeerevolver, mit dem Wappen des neunten Kavallerieregiments im Griff. Das war alles, was ihr von ihrem Bruder noch geblieben war. Ein paar Fotografien und eine unhandliche Waffe.

      Er war der Einzige gewesen, der sie je verstanden hatte.

      Celeste ließ sich aufs Bett fallen, die Arme weit von sich gestreckt. Obwohl sie im Zug gut geschlafen hatte, fielen ihr die Augen erneut zu. Ihre Versuche, wach zu bleiben oder sich wieder aufzurichten, scheiterten, und schon bald war sie in einen unruhigen Schlaf gefallen.

      Sie träumte von New York, ihren Eltern, ihrem Bruder, ihrem Zuhause. Eine Erinnerung, die langsam verblasste und nur in Träumen mit Macht wiederkehrte.

      Sie sah sich in ihrem Zimmer stehen, die Birken vor ihren Fenstern wiegten sich im Wind und die Zeisige bauten ihre Nester in den Astgabeln. Die Tür öffnete sich und ihr Bruder trat ein. Er sah wunderbar aus in seiner blauen Uniform mit den weißen Handschuhen.

      Die jungen Damen der hohen Gesellschaft waren ganz vernarrt in sein spitzbübisches Lächeln, den Schalk in seinen Augen und die tiefe Stimme, mit der er ihnen schöne Worte zuflüsterte.

      Er kam, um sich zu verabschieden. In ihrem Traum versuchte sich Celeste zu erinnern, was sie zueinander gesagt hatten, aber es gelang ihr nicht. Sie strich ihm über die Uniformjacke. Er lachte und kniff sie in die Wange. Die Wehmut dieses Augenblicks traf sie selbst im Schlaf und sie wurde unruhig. Ihr großer Bruder war immer für sie da gewesen, und nun ging er fort, um in einem Krieg Bruder gegen Bruder, Freund gegen Freund zu kämpfen. Die Sklaverei hatte Amerika entzweigerissen und Thomas hielt es für seine Pflicht, dem Ruf zu folgen. Das Wort Freiheit war in aller Munde.

      In ihrem Traum hielt sie ihn fest, klammerte sich an ihn. Ein dumpfes Klopfen lenkte sie ab und brachte das Konstrukt ihres Traums ins Wanken. Dann klopfte es wieder und wieder und ihr erwachender Verstand begriff, dass jemand an ihrer Zimmertür war. Sie richtete sich auf, schlug die Decke über ihre Habseligkeiten und stand auf. Ein Blick auf die kleine Uhr, die sie an einer Kette um den Hals trug, verriet ihr, dass es bald Mitternacht war.

      „Ja, bitte?“, rief sie schläfrig.

      „Ich bitte um Verzeihung, Madam. Ich bin es, Francine. Ihr Gepäck ist eingetroffen.“

      Er waren vier kräftige Personen nötig, um Celestes gesamtes Gepäck zu tragen, das aus zwei Schrankkoffern, einer großen Überseetruhe und diversen Hutschachteln bestand. Francine war die Glückliche, die nur zwei Reisetaschen und ein Kulturköfferchen zu tragen hatte.

      „Bitte stellen Sie es dort ab.“ Celeste zeigte auf den freien Platz vor dem Kleiderschrank. „Haben Sie vielen Dank.“

      Nachdem sich auch Francine ihrer Last entledigt hatte, fragte sie: „Haben Sie noch einen Wunsch, Madam?“

      „Ich muss eingeschlafen sein. Könnte ich noch etwas zu essen bekommen und vielleicht ein Glas Milch? Ich sterbe vor Hunger.“

      Francine seufzte müde und lächelte dann. „Ich bringe Ihnen ein paar Sandwiches … und ein Glas Milch.“

      Das Dienstmädchen machte einen Knicks und ging. Celeste wandte sich verwundert dem Berg von Koffern zu. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, so viel eingepackt zu haben.

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