Abgerutscht. Marliese Arold

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Abgerutscht - Marliese Arold

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lachte. Er ergriff einfach die Initiative. Sie wirbelten zusammen herum. Es war völlig verrückt und machte irrsinnig viel Spaß. Nach einigen Songs fiel Nina wie ein Mehlsack in seine Arme.

      „Ich kann nicht mehr“, japste sie.

      „Aber, aber …“

      „Ehrlich.“ Sie erzählte, dass sie den ganzen Tag auf Jobsuche gewesen war und endlos herumtelefoniert hatte. „Ergebnis gleich null. Ich glaub, die wollen mich hier nicht.“ Sie schmiegte sich an seine Lederjacke. Lukas duftete nach Rasierwasser, sehr angenehm. Seit Steffen war sie mit keinem Jungen mehr zusammen gewesen. Sie sehnte sich nach Zärtlichkeit.

      „Hört sich nicht besonders gut an“, meinte Lukas. „Mein armes, geplagtes Nina-Mäuschen! Aber ich weiß, wie’s dir gleich besser geht.“ Er kramte in seiner Tasche und zog eine Tablette hervor, auf der ein Kleeblatt eingestanzt war.

      Nina schüttelte den Kopf. „Kann ich mir im Moment nicht leisten.“

      „Quatsch. Will ich dich ausnehmen? Natürlich geschenkt.“

      „Na dann.“ Nina hatte schon einmal Ecstasy genommen, aus Neugier. Noch zu Hause, auf der Party einer Klassenkameradin. Der irre Energieschub und das Gefühl, über allem zu stehen, waren genau das, was sie jetzt brauchte. Hamburg war toll, aber anstrengend.

      „Thanks.“ Sie schluckte die Pille mit geschlossenen Augen. Die Wirkung ließ auf sich warten. Nina dachte schon, sie hätte ein Placebo erwischt. Außen Verpackungsschwindel und innen nur Traubenzucker … Aber dann fuhr sie plötzlich total ab. Die Müdigkeit verflog völlig. Sie war auf einmal wahnsinnig gut drauf.

      Alle Ängste waren weg. Alle Zweifel, ob sie einen Job bekommen würde, verpufften. Überschwänglich umarmte sie Lukas. Er war so nett. Die anderen ringsum auch. Sie liebte sie alle. Und erst die Musik! War es noch Musik? War nicht alles um sie herum eins, ein wummerndes Universum? Ihr Körper war zugleich Farbe und Bewegung, Gitarre und Rhythmus. Alles im Kosmos hing zusammen und der Sinn des Lebens war Glück.

      Irgendwann viel später lief sie mit Lukas durch die Straßen, noch immer total aufgekratzt. Sie klammerte sich an seinen Arm, lachte über die Späße, die er machte, und alberte unbeschwert herum. Sie erzählte ihm, dass sie von zu Hause abgehauen sei, weil sie es dort nicht mehr ausgehalten habe. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte ihm sogar von Steffen erzählt. Wie sehr sie ihn geliebt hatte und wie sehr er sie enttäuscht hatte. Aber komisch, der Schmerz war jetzt völlig weg. Sie hasste Steffen auch nicht mehr. Er war ihr einfach ganz gleichgültig. Sollte er doch mit so vielen Mädchen schlafen, wie er wollte! Nina fand es toll, dass sie jetzt so über den Dingen stehen konnte.

      „Wohnst du hier?“, fragte Lukas, als sie vor dem alten Haus angekommen waren.

      Nina lehnte sich an ihn. „Ich hab da ein winziges Zimmer, ganz für mich allein“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Sein kurzes Haar kitzelte sie im Gesicht. Das fand sie sehr aufregend. „Du kannst es dir gern mal anschauen. Kommst du noch mit rauf?“

      Lukas lachte. Dann küsste er sie.

      Nina genoss es. Sie war schon so lange nicht mehr richtig geküsst worden. Lukas’ Lippen waren weich. Er stöhnte leise, als sie ihre Zunge zwischen seine Zähne schob. Sie hätte es jetzt gern gehabt, wenn seine Hände unter ihre Bluse geschlüpft wären und sie gestreichelt hätten. Es störte sie nicht, dass sie auf der Straße standen. Es war sowieso keiner mehr unterwegs.

      Aber Lukas machte keine Anstalten. Nina presste sich noch dichter an ihn und kraulte zärtlich sein kurzes Haar.

      „Ich finde dich nämlich total süß.“

      „Ich dich auch, das musst du mir glauben.“ Er löste sich von ihr.

      Nina runzelte die Stirn. „Aber?“

      Er druckste herum. „Aber ich hab ’ne Freundin. Carolin.“

      Sie fand es fair, dass er es ehrlich sagte. „Na ja, schade. Trotzdem können wir uns mal wiedersehen, oder?“

      „Klar doch.“ Lukas drückte sie noch einmal zum Abschied, dann ging er die Straße hinunter. Nina blickte ihm nach. Er drehte sich um und winkte. Sie hob ebenfalls die Hand. Dann war Lukas verschwunden. Nina sah, dass der Himmel allmählich heller wurde.

      Als sie die Treppe zur Wohnung hinaufstieg, kam plötzlich die Ernüchterung. Wütend schlug sie gegen die Wand. Verdammt! Da traf sie einen netten coolen Typen und war drauf und dran, sich zu verlieben – und dann hatte er schon eine Freundin!

      Ihre Hand zitterte so sehr, dass ihr zweimal der Schlüssel aus der Hand fiel, als sie die Wohnungstür aufschließen wollte. Ihr Zimmer kam ihr kalt und armselig vor. Das zerwühlte Bett, die Enge, die angebrochene Safttüte – alles störte sie. Durchs Fenster sah sie, wie über den Dächern die Sonne aufging. Das zarte Licht verband sich mit der gelben Farbe ihres Zimmers und gaukelte einen Sommertag vor.

      Alles Lüge!

      Nina hätte es am liebsten laut herausgeschrien. Sie trat ans Fenster und schaute deprimiert auf die Autowracks hinunter. Ein kleines Zimmer, kein Job und das Gefühl, der einsamste Mensch der Welt zu sein … das also war aus ihren Träumen geworden!

      Sie ließ sich aufs Bett fallen und trank die Safttüte aus. Sie war unheimlich durstig. Der Saft reichte nicht, sie ging noch einmal in die Küche und trank Wasser. In der Küche roch es nach kaltem Rauch. Es war so widerlich, dass Nina sich fast übergeben hätte. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und warf sich aufs Bett, völlig kaputt. Sie rollte sich zusammen und war gleich darauf eingeschlafen.

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