Wörterbuch des besorgten Bürgers. Группа авторов

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Heilsversprechen.

      So rückwärtsgewandt und krude die besorgten Parolen auch sind, der Zeitpunkt ihres Auftauchens ist dennoch nicht völlig überraschend. Seit Margaret Thatchers berühmtem Ausspruch, dass es so etwas wie Gesellschaft nicht gebe, sondern nur Männer, Frauen und Familien, sind Prozesse am Werk, die soziale Strukturen austrocknen und über alles eine Logik des Ökonomischen legen. Selbst geflüchtete Menschen werden zu Humankapital, was immer noch besser ist, als sie gleich erschießen zu wollen. Die restlose Dominanz des Ökonomischen hat zudem ein unternehmerisches Selbst hervorgebracht, das vermeintlich in vollständiger Eigenverantwortung sein Schicksal bestimmt. Dies heißt allerdings auch, dass das Individuum jedes noch so strukturbedingte Scheitern sich selbst anzulasten hat. Eine Bürde, die kaum zu tragen ist. Möglicherweise ist der besorgte Irrsinn eine falsche Antwort auf die totale Überforderung im Rahmen einer ökonomisierten Kultur, die häufig mit dem Wort Neoliberalismus umschrieben wird. Die Auflösung der Gesellschaft (oder des Sozialen) in kämpferische Einzelwesen provoziert die Sehnsucht nach Gemeinschaft und öffnet damit den Raum für falsche Projektionen und hasserfüllte Ausschlüsse. Weil für die neoliberale Kultur niemand so recht zur Verantwortung gezogen werden kann, kanalisiert sich die Wut auf Schwächere. Ein alter Mechanismus, der offenbar immer noch greift.

      Parallel zur umfassenden Ökonomisierung ist zudem von einer wachsenden Krise der Demokratie die Rede. Das bekannte Spiel der Repräsentation geht nicht mehr auf, die Schäfchen wollen nicht mehr wie die Hirten. Dafür gibt es reichlich Gründe, die hier keinen Platz finden. Die Besorgten sind gewissermaßen nur radikalisierter Ausdruck einer europäischen Tendenz, die mit den drei Hauptfiguren Nationalisierung, Militarisierung und Dehumanisierung auftritt. Der Umgang mit Geflüchteten zeigt die Agonie der humanistisch-europäischen Idee − und die permanente Rede von der Krise offenbart die Doppelzüngigkeit dahinter. Sie wird herbeigeredet, um den Ausnahmezustand aufrechterhalten zu können. Eine Krise herzustellen und nicht zu bewältigen, erlaubt es, immer weiter mit Verweis auf außergewöhnliche Zeiten zu operieren und noch die bitterste Zumutung zu rechtfertigen. Der faktisch rechtlose und zum Objekt degradierte Flüchtling bekommt dies am deutlichsten zu spüren. Wichtig ist es, einem Missverständnis vorzubeugen, das beim Lesen des Wörterbuchs entstehen könnte: Wer Denken und Sprache besorgter Bürger kritisiert, ist noch lange nicht dicke mit Angela Merkel oder Sigmar Gabriel. Die globalen Zumutungen des Spätkapitalismus, einer robusten deutschen Hegemonie in einer tendenziell oligarchischen EU und eines europäischen Grenzregimes dürfen angesichts der reaktionären Gefahr der Besorgten keinesfalls aus dem Blickfeld geraten. Sie sind hier nur nicht Gegenstand.

      Schließlich wäre es vermessen, besorgte Bürger selbst als Adressaten dieses Buchs aufzufassen. Dafür ist die Macht der Agitation zu stark, ergänzt vom Umstand, dass vor allem psychologische Muster von (vorgeschobener) Angst, von Frustration und Hass das Denken und Handeln der Besorgten tragen. Wer gegen Widersprüche und den nüchternen Blick aus dem Fenster derart resistent ist, wird für sachliche Argumente kaum zugänglich sein. Mit diesem Typus eines politisch übersetzten Psychogramms werden womöglich nur Psychologen fertig. Stattdessen stehen zwei andere Ziele im Fokus: Einerseits soll das Wörterbuch Argumentationshilfen liefern, um sich nicht im Dickicht besorgter Sprache zu verfangen. Zu viele ihrer teils abgedrehten Deutungen haben bereits Eingang in den normalen Sprachgebrauch gefunden. Bestes Beispiel ist das Wort Asylkritik, das harmlos einkleidet, was beinharte Ausgrenzungspraxis ist. Oder Flüchtlingskrise, die immer wieder hergestellt wird, statt sie einfach vorzufinden. Wenn es andererseits gelingen sollte, ein paar Leute davor zu bewahren, in die Falle besorgter Angstmacherei zu laufen, wäre schon viel gewonnen.

      Dass manche Einträge länger, andere kürzer sind, hat keinen tieferen Sinn. Manche Texte beziehen ihre Beispiele aus sächsischen Verhältnissen, was dem Wohnort einiger Autoren geschuldet ist. Dabei steht Sachsen vielleicht Modell, einsam ist es dennoch nicht. In unterschiedlicher Häufung und Intensität lassen sich besorgte Muster überall finden. Auf unserem Blog (sprachlos-blog.de) werden sicherlich mit der Zeit weitere Begriffe erscheinen, die hier keinen Eingang gefunden haben. Es bleibt zu befürchten, dass die Bewegung der besorgten Bürger noch lange nicht am Ende ist. Dessen ungeachtet enthält der Blick auf ihre Sprache nicht nur Politisches, schon gar nicht trockene Theorie, sondern ist gern auch von Humor getragen.

       Robert Feustel

       Nancy Grochol

       Tobias Prüwer

       Franziska Reif

       www.sprachlos-blog.de

       !!1!1!!

      Fünf Ausrufezeichen sind »ein sicheres Zeichen dafür, daß jemand die image Unterhose auf dem Kopf trägt«, witzelt eine Figur im Terry-Pratchett-Roman Mummenschanz. Ausrufezeichen müssen dazu herhalten, die Unmöglichkeit des Schreiens im geschriebenen Wort aufzufangen. Und weil die Frustration besorgter Bürger kaum zu steigern ist angesichts der image Manipulationen und Bedrohungen, die das deutsche image Volk erleiden müsse, ertönt jeder Satz mit zornbebender Stimme. Die Zahl der Ausrufezeichen markiert die Erregungsleiter. Zwei, drei wirken ruhig und besonnen. Ab acht wird die Wut anschaulich, bei 30 droht die Halsschlagader zu platzen. Die alte Kunst der Argumentation ist einem marktschreierischen Überbietungswettkampf gewichen: Jede noch so absurde Aussage beweist ihren Wahrheitswert anhand der Häufung einer Punkt-Strich-Kombination am Satzende. Die erregte Gesellschaft hat ihr Lieblingszeichen gefunden. Im Eifer des Gefechts und in Unkenntnis der Feststelltaste schleicht sich hin und wieder eine 1 ein, was der Angelegenheit beinahe einen typographischen Charme verleiht. Das wäre eine Randnotiz, würden die Besorgten nicht auf die Reinheit der deutschen Sprache pochen, die ein Ausrufezeichen nur bei einem Satz mit Imperativ vorsieht. Also wirklich selten. Und immer nur eins. [rf]

       89

      1989 war das Jahr, in dem mächtig was los war im Osten. Die Leute gingen in vielen Städten auf die Straße, riefen unter anderem »Wir sind das Volk« und am Ende gab es keine DDR mehr − so die verkürzte Wahrnehmung. Die wackeren Gida-Montagsspaziergänger meinen, Parallelen zur Gegenwart zu erkennen. »Ihr habt es geschafft, dieses Unrechtsregime dahin zu schicken, wo es hingehört, auf den Müllhaufen der Geschichte«, ruft Michael Stürzenberger am Jahrestag des Mauerfalls 2015 von der Leipziger Legida-Bühne. Und legt den Zuhörern nahe, es ein gutes Vierteljahrhundert später wieder so kommen zu lassen. Ähnliches schwebt auch Redner Graziano vor, der hofft, »dass wir alle gemeinsam es doch schaffen werden, dieses Regime zum Umdenken zu bringen, genau wie damals vor der Wende 1989. Sowas kann sich von heute auf morgen ändern und ihr wisst es: Das geht ruckzuck.« Weil ein Häufchen Getreuer in Leipzig alleine nicht in der Lage ist, derart Großes zu vollbringen, fallen die Namen von Städten, in denen der Protest ebenfalls lodert: Chemnitz, Duisburg und Kassel sind zu hören, Stendal, Goslar, Gera. Es seien viele »Patrioten« regelmäßig auf der Straße, »die dieses Regime nicht mehr länger ertragen können«. Im »Regime« und den abendländischen Protesten dagegen findet am selben Tag eine weitere Rednerin nicht nur Parallelen. Eigentlich sieht sie keine Unterschiede mehr zwischen früher und heute: Leute werden von Arbeitgebern und Kollegen wegen ihrer politischen Meinung

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