Wirklichkeiten. Kurd Lasswitz

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Wirklichkeiten - Kurd Lasswitz

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im gestalteten Erlebnis als Inhalt und Gesetz unseres Bewußtseins ausweist. Jenes X ist das, was Kant das Ding an sich nannte, es ist die bloß gedachte Gesamtheit dessen, was noch wirklicher Weltinhalt werden kann und das sich am besten bezeichnen läßt als eine unendliche Aufgabe für die Menschheit, es zum Erlebnis zu gestalten. Es ist das ewig Bestimmbare, das sich für unser Bewußtsein als Weltinhalt bestimmt, und zwar durch Gesetze, die zugleich die Gesetze des Bewußtseins sind. Damit ist schon gesagt, daß diese Bestimmung sich nicht etwa nach willkürlichen, subjektiven Anordnungen vollzieht, sondern daß sie die objektive Ordnung selbst ist, der auch das subjektive Bewußtsein unterliegt, daß aber diese Ordnung als realer Weltinhalt zugleich mit seiner Realität im Bewußtsein gegeben ist.

      So erklärt es sich, daß entsprechend den Richtungen unserer psychologischen Tätigkeit im Denken, Wollen und Fühlen auch drei Hauptrichtungen in der gesetzlichen Gestaltung des Weltinhalts als Natur, Sittlichkeit und Kunst sich unterscheiden lassen. Nicht etwa, daß die subjektiven Vorgänge jene objektiven Realitäten des Welt- und Kulturprozesses hervorbrächten und bedingten; sondern indem jene objektiven Realitäten sich vollziehen, bildet der gesetzliche Zusammenhang, durch den sie selbst bedingt sind, auch zugleich die Bedingung für den subjektiven Zusammenhang im Bewußtsein. Und dies ist das Große an der kritischen Auffassung, daß sie die Möglichkeit nachweist, wie jene Realitätsgebiete, Natur, Sittlichkeit, Kunst, neben einander ohne Widerspruch bestehen können. Dies können sie darum, weil sie ein und dasselbe Bestimmbare – noch nicht Bestimmte – nur in verschiedenen Formen der Bestimmtheit darstellen. Sie sind Realisierungen ein und desselben Weltinhalts unter verschiedenen Richtungen des Bewußtseins. Natur, Sittlichkeit und Kunst sind nicht getrennte Welten, sondern sie sind ein und dieselbe Welt in verschiedenen Gestaltungsgesetzen. Damit ist nicht etwa gemeint, daß sie den Weltinhalt darstellten nur unter verschiedenen Standpunkten betrachtet, – denn das wäre ein subjektives Spiel und kann uns höchstens als Bild dienen – sondern es ist gemeint, daß wir es wirklich mit drei realen Arten der Gesetzesform zu tun haben, deren Einheit durch die Einheit des Bewußtseins in der Persönlichkeit gewährleistet ist. Dieser Punkt, die Einheit der Weltrealitäten, wird uns noch weiter zu beschäftigen haben. Zunächst betrachten wir die einzelnen Arten, in denen der Weltinhalt sich realisiert.

      Die erste Stufe der Realität ist das Leben selbst, d. h. jene Mannigfaltigkeit des alltäglichen Erlebnisses, wie sie dem Bewußtsein als die Fülle des Daseins ohne systematische Reflexionen sich aufdrängt. Das allgemeine Gesetz, unter dem diese Realität steht, ist die Ordnung im Nacheinander der Zeit und der Zusammenschluß zum Erlebnis räumlich getrennter Individuen. Das Leben spielt sich ab in der persönlichen Erfahrung der einzelnen, und die Bedingung, daß solche Einzelwesen gleichzeitig nebeneinander existieren können, nennen wir den Raum. Raum und Zeit sind die allgemeinen Bedingungen dafür, daß die subjektive Ordnung des Erlebnisses der einzelnen bewußten Wesen zugleich als objektive Ordnung von Körpern bestimmbar ist. Alles, was uns in Raum und Zeit umgibt, unsere Sinne reizt, unser Gefühl beherrscht, unsere Willenstriebe erregt, unsere Lebensenergie ausmacht, ist schon durch die Einheit des Bewußtseins geordnetes Erlebnis und als solches objektiv. Aber es ist kein reiner Bewußtseinsgehalt, d. h. kein Weltinhalt, der in reiner, einseitig gesetzlicher Weise realisiert wäre, sondern alle Richtungen des Bewußtseins wirken in ihm zusammen. Dieser Weltinhalt heißt das Leben, und diejenige Einheit, in der er sich als Erlebnis realisiert, heißt ein individueller Geist.

      Aus dem Leben sondert sich die Natur im wissenschaftlichen Sinne als eine Realität besonderer Art. Es fällt vielleicht auf, daß wir die Natur auch als eine Richtung der Kultur erklären, während sie doch gewöhnlich gerade als Gegensatz zur Kultur aufgefaßt wird. Wir verweisen zur Erläuterung auf das, was wir im vierten Aufsatze über den Doppelsinn des Wortes Natur gesagt haben. Wenn wir von der Natur als einer reinen Kulturrichtung sprechen, so meinen wir damit nicht jenes unbestimmte Etwas des Weltgeschehens überhaupt, sondern wir verstehen darunter die Natur im wissenschaftlichen Sinne, den Inhalt der Naturwissenschaft, den erkennbaren, nach dem Gesetze der Notwendigkeit sich vollziehenden Naturlauf. Nicht der Sturmwind, der unser Schiff zerschmettert, nicht die Sterne, die über unserm Haupte leuchten, sind Natur in unserm Sinne als Teile der Kultur, sondern objektive Natur sind an diesen Erlebnissen nur die atmosphärische Bewegung, insofern sie sich nach mechanischen Gesetzen vollzieht, der nach mathematischer Ordnung stattfindende Lauf der Gestirne und die Ausbreitung der Ätherwellen. Und nur dieses Produkt der Naturwissenschaft ist es ja, welches zum Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit führt. Das Naturgesetz, demzufolge jedes Atom seine vorgeschriebene Bahn beschreiben muß, steht in scheinbarem Widerspruch zur Freiheit des Willens, nicht aber der Sturmwind und Sternenschein, deren Ursachen wir nicht kennen, die wir als ein zufälliges Ereignis betrachten. Daß die Erscheinungen gegen unsern Willen auftreten, bedingt keinen Widerspruch, d. h. keinen Widersinn, sondern bewirkt höchstens ein Gefühl der Unlust oder der eigenen Schwäche. Der Widerspruch tritt allein im Denken auf, wenn man die gesamte Kette der Tatsachen zu verstehen sucht. Erst die Auffassung der Natur als Mechanismus hat den Zwiespalt der Erfahrung erzeugt; vorher existierte die Frage nicht, wie Freiheit möglich sei, da man die Natur nicht als Gegensatz dazu dachte. Daher haben wir bei unserm philosophischen Problem nur die Natur als Gegenstand der Naturwissenschaft in Betracht zu ziehen; denn allein in diesem Sinne ist die Natur als allgemeingültig und gesetzlich eine objektive Realität.

      Man wird allerdings sagen, der Sturmwind, der uns scheitern läßt, der Sternenschein, zu dem wir aufblicken, sind ja ebenfalls objektiv real; der Wilde, der Ungelehrte, der von Naturwissenschaft keine Ahnung hat, ist doch den Naturgewalten voll und ganz unterworfen? Gewiß, und der Philosoph ganz ebenso! Aber diese Natur, die hier gemeint ist, ist nicht die Natur, die zur kritischen Frage treibt. Sie ist nicht das Produkt der Naturwissenschaft, sondern ihre noch nicht gelöste Aufgabe. Sie ist lediglich Naturerlebnis . Als Erlebnis besitzt sie, wie wir oben ausführten, ebenfalls Realität, die Realität des Lebens, diese tritt jedoch zur Realität der Freiheit nicht in Gegensatz. Hier ist vielmehr noch alles ungeschieden zusammen, bloßes Ereignis, das ebenso Gegenstand der Erkenntnis wie des Willens oder des Gefühls werden kann, und uns eben darum zum Beispiel dient, daß ein solches Zusammen von Bestimmungsweisen möglich ist. Aber hier zeigt sich gerade, was wir durch die Unterscheidung der Realitäten gewinnen. Das Erlebnis besitzt Realität in gewissem Sinne, indessen seine Allgemeingültigkeit, seine höhere Realität erhält es durch die wissenschaftliche Objektivierung als gesetzliches Ereignis. Es wird als Natur bestimmt, und wir sehen zugleich, daß diese Natur nur ein Teil der Realität überhaupt ist.

      Daß aber diese Natur als gesetzliche Realität zur Kultur gehört, erkennt man aus der Überlegung, daß sie sich erst an und mit der Kultur entwickelt. Die Geschichte der Naturwissenschaft ist nichts anderes als die allmähliche Gestaltung des subjektiven Erlebnisses der Menschheit zu einer objektiven Gesetzlichkeit, an die sich nunmehr die einzelnen gebunden wissen. Wir verfolgen nur an einigen Beispielen den Verlauf, wie mit der Entwickelung der Kultur sich immer weitere und fester gesicherte Gebiete hervorheben, in denen die Übereinstimmung der Subjekte sich als gesetzlich bedingt erweist; diese Bedingung eben ist die Natur, wie sie sich durch die Erkenntnis als eine objektive Realität mit dem Ansteigen der Kultur enthüllt.

      Je niedriger der Kulturzustand ist, um so weniger objektive Natur gibt es, das heißt, um so ungewisser steht die Menschheit dem Eintreten und Verlauf der Naturerscheinungen gegenüber. Alles Leben wird zunächst bemerkt im Bewußtsein der einzelnen Individuen, und erst die Tatsache, daß sie sich untereinander verständigen können, daß in ihrem Erlebnis Übereinstimmung herrscht, ist das Merkmal, daß objektive Ordnungen bestehen. Aber jene Übereinstimmung ist sehr mangelhaft, diese Ordnungen sind zusammenhanglos. Wohl verständigen sich die Volksgenossen über gemeinsame Unternehmungen, wohl bilden Tages- und Jahreszeiten, der Verlauf der Witterung, die Gewohnheiten des Wildes und dergleichen gewisse Regelmäßigkeiten, die sich aus dem passiven Erleben der einzelnen herausheben als Zeichen, daß es etwas Erkennbares gibt. Jedem selteneren Ereignis dagegen steht der Wilde ratlos gegenüber; es ist für ihn unerkennbar und zusammenhanglos mit den gewohnten Erscheinungen. Die ganze Natur ist durchsetzt von solchen Rätseln und Wundern und erscheint daher als das Werk willkürlicher und unbegreiflicher Gewalten. Je weiter indes die Erkenntnis fortschreitet, um so mehr zieht

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