TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller. Группа авторов

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sich auf Räume und Kollektive festzulegen, sich über Generationenfolgen zu definieren, was Irene als maßlose Zumutung ablehnt – in Abgrenzung von jenem in Deutschland lebenden Italiener, der Irene in der Textlogik im Namen einer falschen Solidargemeinschaft der ›Heimatlosen‹ vereinnahmen will. Sie lehnt dies entschieden ab.

      Es geht Herta Müller freilich nicht darum, die demokratische und wesentlich freiere Gesellschaft der Bundesrepublik mit dem Staatssozialismus gleichzusetzen; vielmehr wohnt ihrer Poetik ein sehr feines Sensorium für kollektive Festschreibungen, Verweigerung von Individualität und fehlende Durchlässigkeit gegenüber Selbstentwürfen inne. Die Diskurse und Mechanismen, die individuelle Übergänge hier wie dort verhindern, werden in ihrer jeweiligen Spezifik (de)konfiguriert.

      »Inge. Einem Inspektor gewidmet«: Ironische Dekonfiguration der Propaganda

      Diesen Zeilen würden heutige Leser in einer demokratischen Gesellschaft auf Anhieb wohl zustimmen; tatsächlich beziehen sie sich aber auf eines der zentralen Organe der Kommunistischen Partei Rumäniens, auf eine der wichtigsten publizistischen Stützen der Diktatur Ceauşescus, eine Zeitung, die dem Geheimdienst nahestand und Propaganda in dessen Sinne verbreitete. Die Zeilen vermitteln einen Eindruck davon, was Herta Müller mit der ›hölzernen Sprache‹ der Diktatur und der Komplizenschaft aller Wörter meint, auf die kein Verlass mehr ist. Will man nicht mit diesem totalitären Zugriff auf die Welt identisch sein, muss man ironisch vorgehen, die Begriffe ihren Verwendungszusammenhängen entreißen, eher subjektiv-aisthetische als rationale Pfade einschlagen, um die Absurdität dieser doppelbödigen Ordnung aufzuzeigen. Etwas anderes bleibt den Figuren, die in dieser überwachten Welt leben, auch kaum übrig, unterliegen doch jeder Begriff und jede Interaktion der Definitionsmacht des Totalitarismus.

      Mit dieser hilflosen, ihren eigenen Wahrnehmungen ausgelieferten Figur entwickelt Müller schon früh ein wichtiges Merkmal ihres Stils. Drastisch schildert ihre Sprache Verletzungen, die Inge erlebt, indem sie keiner Ideologie einen Sinn abgewinnen kann, obwohl sie über keinen eigenen belastbaren Selbst- und Weltentwurf verfügt. Gewalterfahrungen und bedrückende Leere bestimmen demzufolge Inges Erleben. Weil sie die Staatsideologie nicht teilt, wirkt diese nicht sinnstiftend; ihre Sozialisation im System hat zur Folge, dass ihr sowohl öffentlicher Widerstand als auch eigenständige gesellschaftliche Gegenentwürfe sinnlos scheinen. Auch kommen die Machthaber als moralisch und intellektuell beschränkte Wesen daher – sie erinnern an Hannah Arendts »Banalität des Bösen« und vermitteln den Eindruck, eine gegen sie initiierte Revolte gar nicht begreifen zu können. Daher verlagert sich Inges Widerstand nach innen, in eine subjektive, individuelle Sprach- und Bildwelt. Diese Disposition wird nicht als individuelle Schwäche dargestellt, sondern als Effekt eines gesellschaftlichen Systems, das selbst keine Spielräume für offenen Widerstand zulässt. Im Leiden Inges an den Menschen, denen sie begegnet, äußert sich Kritik an der generalisierten Angst, an der Internalisierung der Regeln der Diktatur und an Automatismen, die an die Stelle zwischenmenschlicher Interaktionen getreten sind. Inge weigert sich, auf vorgefertigte Versatzstücke, auf Skripte zurückzugreifen, die in der sozialistischen Diktatur sicherstellen, dass die Einzelnen aus Sicht des Geheimdienstes Securitate keine Fehler begehen. Damit verschmäht sie das Sinnstiftungsangebot der totalitären Gesellschaft. So leistet sie eine Form passiven Widerstands, der mit eigener Beschädigung einhergeht – denn Inge ist den Gewaltmustern ausgesetzt, ohne die Partizipationsangebote der sozialistischen Gesellschaft wahrzunehmen und ohne ihr Widerständig-Sein mit anderen zu teilen.

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