TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller. Группа авторов

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– auf Individuen, die Übergänge gestalten. Sie ist gespeist von der Erfahrung, wie ihre Familie als »›Mitwohnende‹ zum Spielball rumänischer Gastfreundschaft«10 wurde; sie zielt somit auf europäische und globale entangled memories in einem Deutschland, das nicht bloß »virtuelle Inder«11 zulässt. »Je mehr Augen ich für Deutschland habe, um so mehr verknüpft sich das Jetzige mit der Vergangenheit«12 – einer Vergangenheit, deren räumliche und thematische Eingrenzung heute nicht zuletzt dank der Postkolonialen Studien obsolet geworden ist. Durch den Fokus auf individuelle Erfahrung und Übergänge ist Müllers Poetik schon von Anfang an gegen Zentren und normalisierte Beobachtungsregimes ausgerichtet; das betont sie in der ironischen Umkehrung der ständigen Akzentkorrekturen, die sie in Deutschland erfährt: Weil sie von einem deutschen Werbeplakat an das schwarze ›Pech-Brot‹ des Totalitarismus erinnert wird, weist sie auf den Fehler hin, dass ›Pech-Brot‹ in der Anzeige »mit ae geschrieben« werde, »aber wie die Blumenverkäuferin schon sagte: ›Das macht ja nichts‹«.13

      Es geht Müller keineswegs nur um eine Revision des Selbstentwurfs, wenn auch die Zeilen verdeutlichen, dass das Schreiben durchaus eine persönliche Neuverortung in einem existenziellen Sinn ermöglichte. »Welt«, das »dreihundertjährige (…) Dorf« sowie die »Nazi-Lieder« werden genannt, später auch die Russlanddeportation der Mutter und die mechanische Arbeit im Staatssozialismus. Die Koordinaten der Selbstverortung sind breit gefasst: Die Welt als regulative Idee im Hintergrund, die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus, dem Zweiten Weltkrieg, den zwei Systemen nach 1945 und dem Umbruch 1989 werden in den Erzählungen immer wieder zu Anhaltspunkten für die Verletzungen, die die Einzelnen davongetragen haben. Mehr noch, mit dem dreihundertjährigen Dorf ist eine der vielen großen europäischen Migrationsbewegungen angesprochen, die von West nach Ost verliefen und durch ihre Gegenläufigkeit zur heute von Ost nach West verlaufenden Migration wiederum mit dieser verbunden werden muss. Die Komplementarität der beiden Migrationsrichtungen ist nicht nur, aber auch an Deutschsprachigkeit geknüpft. Bereits in den Erzählungen aus dem Band »Niederungen« werden Einblicke in die banatdeutsche Gesellschaft gewährt, die sich nicht nur über die deutschen Schulen, den eigenen deutschen Kultur- und Pressebetrieb und die geschlossenen Ortschaften definiert, sondern auch durch die Katholische Religion von den mehrheitlich das Banat bewohnenden Rumänen unterscheidet. Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Normierungen und Exklusionsregeln mag es eher mit woanders in Europa liegenden traditionsorientierten katholischen Dörfern geben.

      Herta Müllers frühe Texte sind somit vor allem Geschichten mühsamer Übergänge, die sich entweder wider alle Wahrscheinlichkeit gegen enorme Widerstände dann doch vollziehen oder ausbleiben und die Figuren in einer unerträglichen Aussichtslosigkeit zurücklassen. Erzwungen werden diese Übergänge durch eine schier unerträgliche strukturelle Gewalt, die zum einen in den banatdeutschen Gemeinschaften von Generation zu Generation weitergegeben wird, zum anderen im Staatssozialismus entsteht, der seine eigenen Bürger überwacht und einschüchtert.

      Aktuell an Herta Müllers frühen Erzählungen ist zudem der transnationale Blick auf Europa. Wenn sich Gemeinschaften wie die banatdeutsche selbst dreihundert Jahre nach ihrer Einwanderung in ein Territorium, das mehrheitlich von anderen bewohnt wird, immer noch abschotten und einen Überlegenheitsanspruch aufrechterhalten, wird dies als Gewaltmoment dargestellt. Als Preis für die Gruppenzugehörigkeit müssen die Banatdeutschen auf inter- und transkulturelle Selbstentwürfe verzichten. Genau dies, nämlich Inter- und Transkulturalität im dargestellten mehrsprachigen Raum, wären in den Erzählungen Müllers ex negativo das Naheliegende – zumindest insofern, als die Segregation gegenüber Nicht-Deutschen und die Ehen innerhalb der Sprach- und Kulturgemeinschaft als Absurdität entlarvt werden. Übergänge systematisch zu unterbrechen oder zu verhindern, ist das gemeinsame Zeichen totalitärer Logik, das gemeinsame Signum der Gewalt, das den rumänischen Staat und die banatdeutsche Gemeinschaft verbindet.

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