Die Politik Jesu. John Howard Yoder
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Eine direkte Antwort darauf sind die prophetischen Worte, mit denen Jeremia im Namen JHWHs, des Gottes Israels, an die Bedeutung der Freilassung im Sinaibund erinnert; ausdrücklich wird festgestellt, dass Jerusalem wegen der Nichteinhaltung des erneuerten Bundes in die Hände Nebukadnezars fällt. „Ihr habt nicht auf mich gehört, dass ihr, ein jeder für seinen Bruder und ein jeder für seinen Nächsten, Freilassung ausgerufen hättet. So rufe ich denn um Freilassung für euch aus (d. h. ich liefere euch aus), spricht der Herr, dass ihr dem Schwert, der Pest und dem Hunger verfallen sollt“ (Jer 34,17). Bei der prophetischen Vision geht es also um die Erneuerung des Gottesvolkes. Als solche meint sie beides: die konkrete Erneuerung, die gelegentlich in der Vergangenheit geschehen und jetzt noch möglich ist, und auch die Erneuerung nach dem Ende der Zeiten – beides vollzieht sich in Form des Jubeljahres. Dieselbe Vision findet sich in Jesaja 58,6–12. Jesus macht also keinen willkürlichen Gebrauch von Jesaja.59
Wir müssen folgern, dass Jesus dem buchstäblichen Sinn seiner Worte nach, ebenso wie Maria und Johannes, den bevorstehenden Anbruch einer neuen Herrschaft ankündigte, die man daran erkennen sollte: Die Reichen geben den Armen, die Gefangenen werden befreit, und die Menschen erhalten ein neues Bewusstsein (metanoia), wenn sie diese Botschaft glauben.
Wir wissen nicht genau, was Jesus mit der Feststellung meinte, dass „dieses Wort erfüllt ist“. Wie ist Jesu Anspruch zu verstehen, in seiner Person beginne gerade jetzt etwas zu geschehen? Geschah überhaupt etwas? Kündigte er ein Ereignis an, dessen Verwirklichung vom Glauben seiner Zuhörer abhängig war, so dass es schließlich dann doch nicht geschehen konnte wegen ihres Unglaubens? Oder kündigte er etwas an, das dann wirklich geschah, aber für eine Weile wenig sichtbar war?
Das ist eine ernstzunehmende Frage. Doch handelt es sich um eine Frage der systematischen Hermeneutik, die von Lesern in den Lukastext hineingelesen wird, die nicht dabei waren. Diese Frage hat damit zu tun, inwieweit die von Jesus versprochene Erfüllung historische Realität war. Sie hat nichts mit der klaren Tatsache zu tun, dass es im Text um ein soziales Anliegen geht. Wir mögen große Schwierigkeiten haben, herauszubekommen, wie dieses Ereignis stattfand oder hätte stattfinden können; doch was stattfinden sollte, ist klar: eine sichtbare sozio-politische, ökonomische Neuordnung der Beziehungen im Volke Gottes, und das durch sein Eingreifen in der Person Jesu als des Gesalbten und mit dem Geist des Begabten.
Mit dem Zusammenstoß in der Synagoge erregt Jesus erstmals direktes Ärgernis bei seinen Hörern. Unter Berufung auf die Propheten verkündet er, dass das neue Zeitalter auch für die Heiden offenstehe. Diese zweite Stoßrichtung scheint nicht aus der Jubeljahrsverkündigung zu stammen; sie erwächst vielmehr aus Jesu Antwort auf den Unglauben seiner Zuhörer. Zwischen beiden Themen besteht ein eher negativer Zusammenhang: das zweite Anliegen, das sich gegen den ethnischen Egoismus Israels richtete, verhinderte, dass das erste im nationalistischen Sinne missverstanden wurde. Der Hinweis des Propheten auf die Gefangenen und Unterdrückten bleibt also nicht auf Israel oder das Judentum im Ganzen als kollektiv Unterdrückte beschränkt; dafür ist die Befreiung zu umfassend. Die neue Zeit ist für alle Menschen da, und das Zögern der Einwohner von Nazareth wird die weitere Verkündigung nur beschleunigen.
Eine neue Stufe der Öffentlichkeit: Lukas 6,12ff
Ab Kapernaum (4,31) berichtet Lukas von einem wachsenden Echo unter der Menge, den Kranken und Steuereintreibern. Bald beginnt die Reaktion des religiösen Establishments mit Einwänden gegen Jesu Autorität, Sünden zu vergeben (5,21), und gegen seinen schlechten Umgang (5,30). Beinahe von Beginn an sucht die Opposition ihr Heil im verärgerten Ränkeschmieden (6,11). Lukas betont, dass Jesus „in diesen Tagen“ nach einer langen Nachtwache zwölf Schlüsselpersonen aussuchte – die Erstlinge eines erneuerten Israel. Seine Antwort auf die organisierte Opposition ist die ausdrückliche Gründung einer neuen sozialen Wirklichkeit. Neue Lehren sind keine Bedrohung, solange der Lehrer alleine steht; eine Bewegung dagegen, die seine Persönlichkeit in Zeit und Raum verlängert und eine Alternative zu den vorgegebenen Strukturen bietet, fordert das System heraus, wie bloße Worte es nie könnten.60
Zwar mag das Funktionieren dieses inneren Kreises dem Zusammenleben anderer Rabbis mit ihren Lieblingsjüngern verwandt sein, doch bei seiner Gründung geht es um mehr. Ihre Zahl, die Nacht im Gebet,61 die darauffolgende zeremonielle Verkündigung von Weherufen und Seligpreisungen – all das dient der Dramatisierung einer neuen Stufe der Öffentlichkeit. Die Öffnung über das Judentum hinaus, die in der Synagoge zu Nazareth vorausgesagt wurde, beginnt nun; die „Küste von Tyros und Sidon“ ist auf dieser weiten Ebene vertreten. Trotz der vielen Parallelen zur Bergpredigt liegt der Schwerpunkt bei Lukas woanders. Im Kontrast zu den Seligpreisungen stehen Weherufe nach Art der Bundeszeremonien im alten Israel. Die Seligpreisung gilt den Armen, nicht nur den Armen im Geiste; den Hungrigen, nicht nur denen, die nach Gerechtigkeit hungern. Die Beispiele aus dem sexuellen Bereich (Mt 5,27–32) fehlen; nur persönliche und wirtschaftliche Konflikte dienen als Hinweis auf den neuen Weg, auf dem genommenes Gut nicht zurückgefordert und die Schuld vergeben wird. Wie beim Jubeljahr und im Vaterunser werden Schulden als das paradigmatische soziale Übel angesehen. Kurz gesagt: Die Ankündigung in der Synagoge wird wiederholt und in Einzelheiten geschildert, diesmal auf einer strukturierten sozialen Basis (zu der sowohl die gläubige Menge als auch der harte Kern gehören)62 und im Angesicht der Masse („vor den Ohren des Volkes“, 7,1). Eine Ethik, die sich leiten lässt durch die beiden Kernpunkte der Nachahmung, des Nachvollzugs von Gottes grenzenloser Liebe zu seinen rebellischen Kindern (6,35f) und der auffälligen Verschiedenheit zum normalen „Naturrechts“-Verhalten anderer („Welchen Dank habt ihr da? Auch die Sünder …“, 6,32–34, Jerusalemer Bibel), ist nur zu begreifen, wenn das neue Zeitalter bereits begonnen hat und wenn die Neuartigkeit dieser Zeit ökonomisch realisierbar ist.
Das Brot in der Wüste: Lukas 9,1–22
Die Verbindung zwischen der Aussendung der Zwölf (9,1–10), der Speisung der Menge (9,11–17) und dem ersten Bekenntnis des Petrus (9,18–22) wird in Johannes 6 sehr viel deutlicher herausgearbeitet. Maurice Goguel hat zu Recht angenommen, dass dieses Kapitel historisch ernstzunehmen ist. Diese nach Tausenden zählende Menge war nicht der harte Kern geprüfter Jünger, sondern eine erste Welle Fragender, die sehen wollten, was es mit dem von den Zwölfen angesagten Königreich auf sich hätte. Wie der Teufel gesagt hatte, brachte die Verteilung von Brot die Menge dazu, Jesus als den neuen Moses auszurufen, den Ernährer, den erwarteten Wohlfahrtskönig. Sein Ausweichen vor ihrer Akklamation ist (in allen Evangelien) die Gelegenheit der ersten Ankündigung, dass sein Wirken von Leiden geprägt sein würde und dass seine Jünger bereit sein müssten, dieses Kreuz mit ihm zu tragen. Zu diesem Zeitpunkt fordert er Petrus zu seinem Bekenntnis heraus und heißt ihn dann schweigen. Unmittelbar darauf folgt das erste Anzeichen, dass Petrus den Christus nicht als leidend begreifen will. Zu diesem Zeitpunkt ziehen sich andere Jünger wegen seiner harten Worte zurück (Joh 6,60–66). Und genau dann „richtet er sein Angesicht nach Jerusalem“. Wie gering auch die Chance sein mag, aus den Evangelienberichten eine fortlaufend erzählende Biografie zu konstruieren, diese Geschichte vom Brot in der Wüste ist sicher eine der Gelenkstellen allen Geschehens.63 Sie markiert den Höhepunkt des massenwirksamen Auftretens in Galiläa und den Übergang zu einem mehr auf die Jünger bezogenen Wirken wie auch zum Gang nach Jerusalem. „Auf dem Weg nach Jerusalem“ (9,51) heißt die Überschrift des zweiten Drittels des Lukasevangeliums.
Dieser erste Hinweis auf das Kreuz wird schon in seinem auf die Krone bezogenen Kontext sehr deutlich. Kreuz und Krone sind Alternativen, und dies nicht nur da, wo Jesus es seinen Jüngern sagt, gleichsam als Element moralischer Unterweisung (vgl. S. 46), sondern auch in der eigenen Sicht seines Wirkens und in seiner Antwort auf die fordernde Akklamation des Volkes. Er beginnt, sich nicht nur von den Führern