Die Politik Jesu. John Howard Yoder
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Der zweiten Versuchung in der Reihenfolge von Lukas wird allgemein sozio-politischer Charakter zugestanden.48 Die Stimme vom Himmel (3,22) hatte Psalm 2,7 zitiert, der Versucher geht einfach weiter zur Verheißung von 2,8. Hier gibt es keinen Zweifel über die politische Natur des versprochenen Lohnes, „alle Reiche des Erdkreises … alle diese Macht und ihre Herrlichkeit“; gefragt werden müsste hier allerdings, was es hätte bedeuten können, „ihm zu huldigen“. Sollen wir uns eine Art Satanskult vorstellen? Oder bietet sich nicht eine viel konkretere Bedeutung, wenn wir Jesus als den verstehen, der mittels solcher Begriffe den götzenhaften Charakter politischen Machthungers und des Nationalismus aufdeckt?
Schließlich wird Jesus auf die Zinne des Tempels geführt. Niels Hyldahl49 kombiniert sehr geschickt die Mischnavorschriften über die Ausführung der Todesstrafe mit einigen alten Berichten über das Martyrium des Jakobus: der Sturz von einem Turm in der Tempelmauer (der gut als pterygion bezeichnet werden kann, was normalerweise mit „Zinne“ übersetzt wird) in das Kidrontal, falls notwendig mit anschließender Steinigung, war die vorgeschriebene Todesstrafe für Blasphemie. Die Versuchung bestünde dann darin: Jesus sieht sich selbst, wie er die Strafe für seinen Anspruch auf göttliche Autorität auf sich nimmt, doch auf wunderbare Weise vor den Konsequenzen gerettet wird.50 Hyldahl trifft keine Entscheidung, wo der Akzent liegen soll: darauf, dass Jesus über die Strafe nachdenkt und damit rechnet, zu entkommen, oder darauf, dass er sich als eine Art Gottesurteil aus eigener Initiative hinunterstürzt. In jedem Falle ist es der quasi-blasphemische Anspruch auf göttliches Königtum, der der Prüfung ausgesetzt wird.
Wenn wir, statt auf Hyldahls Vorschlag eines Sturzes außerhalb der Tempelmauer einzugehen, bei dem traditionelleren Bild einer plötzlichen Erscheinung von oben und zwar innerhalb des Tempelhofes bleiben, so müssen wir Hyldahl auf jeden Fall zustimmen, dass es nicht um ein rein akrobatisches Kunststück zur Beglaubigung von Jesu Ruf als Wundermann ging. Das wäre ein Zeichen der Art gewesen, die Jesus den Neugierigen und Zweifelnden standhaft verweigerte. Wenn wir überhaupt zu rekonstruieren versuchen, was als die konkrete menschliche Möglichkeit in Jesu Versuchung über die Bedeutung seiner Mission hätte angesehen werden können – wäre nicht eine unerwartete Erscheinung von oben der beweiskräftigste Weg für den Botschafter der Verheißung, um nach Maleachi 3,1–3 „… plötzlich in seinen Tempel zu kommen und … die Söhne Levis zu reinigen“? Weiter (sogar noch deutlicher in Matthäus’ Bericht, wo diese Versuchung nicht den Höhepunkt darstellt, sondern zum Angebot der Weltherrschaft führt) sehen wir Jesus über die Rolle als religiöser Reformer, himmlischer Botschafter nachdenken, der unangekündigt von oben erscheint, um die Dinge ins Lot zu bringen.
Soll nicht dieses Herabschweben von einem so bedeutungsvollen Ort den Auftakt bilden zu einem religiös-politischen Freiheitskampf, der Jesus schließlich zum Triumphator macht, so wie es jene falschen Messiasprätendenten anstrebten, von denen das Neue Testament und Josephus gerade für die damalige Zeit genug Beispiele bieten?51
Das öffentliche Wirken: Lukas 4,14ff
Lukas beginnt nicht mit einer Zusammenfassung dessen, was Jesus „zu predigen begann“. Anders Matthäus und Markus. Beide berichten, dass Jesus in seiner ersten Botschaft dieselben Worte gebraucht wie vorher Johannes der Täufer (und später die Jünger): „Das Reich Gottes ist nahe; tut Buße und glaubt an die gute Nachricht.“ Die Sprache – „Königreich“, „Evangelium“ – kommt aus dem politischen Bereich. Diese eigentümliche Wortwahl wäre äußerst unangemessen, hätte sich Jesus, gegen die Erwartungen des Johannes, nicht für diesen Bereich interessiert. Dass „Königreich“ ein politischer Begriff ist, braucht kaum hervorgehoben zu werden; dass aber „Evangelium“ nicht irgendeine alte willkommene Botschaft ist, sondern eine öffentlich bedeutsame Bekanntmachung, die es wert ist, durch Eilboten weiterbefördert und durch ein Fest empfangen zu werden, ist dem normalen Bibelleser weniger bewusst.
Auch Lukas spricht von der Verkündigung „des Evangeliums vom Königreich“ (4,43), doch er gebraucht diese Begriffe nicht gleich am Anfang von Jesu Wirken; für Theophil hätten sie nicht dieselbe Dichte des terminus technicus wie für die Leser des Markus. Lukas entfaltet stattdessen denselben Anspruch in einem ausführlicheren Bericht aus der Synagoge zu Nazareth.
Der Abschnitt aus Jesaja 61, den Jesus hier auf sich anwendet,52 ist nicht nur eindeutig messianisch: er formuliert die messianische Erwartung auch in ausdrücklich sozialen Begriffen.
Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen Befreiung zu verkündigen und den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen zu befreien und zu entlassen, ein angenehmes Jahr des Herrn zu verkündigen.53
Lk 4,18–19
Es ist gut möglich, dass das „angenehme Jahr des Herrn“ im Buch des Propheten sich auf ein besonderes Ereignis am Ende seines Zeitalters oder in der unmittelbaren Zukunft der Gefangenen in Babylon (oder auf beides) bezog; aber für das rabbinische Judentum und somit für die Zuhörer Jesu bedeutete es sehr wahrscheinlich keins von beiden, sondern vielmehr das Jubeljahr, die Zeit, in der die Ungleichheiten, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten, ausgelöscht werden und das ganze Volk Gottes am gleichen Punkt wieder anfängt. Erwartet wird also nicht, dass Jesus Palästina aus dem Zeitverlauf am Ende herausnimmt, sondern vielmehr, dass der gleichmachende Einfluss des Sabbatjahres nach Palästina kommt.
In einem kleinen genialen Buch54 hat André Trocmé das Beweismaterial gesammelt, dass Jesu Konzept des herannahenden Reiches weitgehend aus dem prophetischen Verständnis des Jubeljahres entlehnt ist. Diese Hypothese wirft Licht auf viele Anspielungen und einige der schwierigen Gleichnisse. In der Ausschließlichkeit, mit der Trocmé seine Hypothese als Schlüssel benutzt, mag man ihn zu originell und phantasievoll finden. Aber es ist nicht, wie aus dem Schweigen, womit kontinentale Neutestamentler auf Trocmés Buch reagierten, geschlossen werden könnte, ein gänzlich neuer oder undenkbarer Gedanke.
Schon Standardkommentare wie La Grange und Plummer lieferten dieselbe Interpretation dieser Passage.55 Der Unterschied liegt eher im Grad der Bereitschaft, das Licht, das dieser Abschnitt auf das übrige Wirken Jesu und auf sein Selbstverständnis werfen könnte, ernstzunehmen.
Es geht uns hier nicht darum, die Ursprünge des Sabbatjahres und des Jubeljahres zu diskutieren, die vermutlich aus einer Art Bankrott- und Verpfändungsregelung im alten Israel herrühren.56
Noch brauchen wir zu diskutieren, ob und in welchem Ausmaß die Vorschriften in Levitikus 25 jemals buchstäblich eingehalten wurden57, sei es in Form eines Fünfzig-Jahre-Rhythmus für bestimmte Verpflichtungen oder als umwälzende wirtschaftliche Reorganisation, die alles Eigentum sofort umverteilte. Wir konzentrieren uns auf den prophetischen Gebrauch der Jubeljahrsvision. Mit Levitikus 25 blieb die Vision einer Zeit lebendig, in der das wirtschaftliche Leben von Grund auf neu beginnen sollte; und das Zeugnis in Jesaja 61 zeigt die Fruchtbarkeit dieses Textes als Vision der kommenden Erneuerung.
Mindestens einmal wurde diese Vision des Jubeljahres in Israel als konkrete Erfahrung lebendig. Jeremia (Kap. 34) berichtet von einer Erneuerung