Christines Weg durch die Hölle. Robert Heymann
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Читать онлайн книгу Christines Weg durch die Hölle - Robert Heymann страница 6
Christine setzte sich auf. Man hatte sie in einem Abteil allein gelassen. Plötzlich zogen die Bilder der letzten Stunden mit rasender Schnelligkeit an ihrem Geiste vorüber. Ihre Erinnerung, gekräftigt in der Geborgenheit ihrer neuen Umgebung, tastete weiter.
Und da fiel ein Feuerreif über sie, ihr Herz presste sich zusammen wie unter einem unerträglichen Druck, sie schrie auf.
Mit einem Mal sah sie die Katastrophe im Wirtschaftsgebäude vor sich, sie entsann sich, dass sie mit dem Hauptmann Alexeij Odojewskij verschüttet worden war, dass man sie ausgegraben hatte, dass aber niemand um das Schicksal des Offiziers wusste, dass sie nichts von ihm gesagt hatte, nichts hatte sagen können, weil ihr Kraft und Erinnerung gefehlt hatten.
Was wird er denken! Was wird er von mir denken, wenn er noch am Leben ist? sinnt Christine. Er wird mein Verhalten für Rache nehmen — eine furchtbare Rache, deren ich nie fähig wäre ...
Vielleicht liegt er noch irgendwo unter den Trümmern, der eisige Sturm fegt darüber weg, der Schnee deckt ihn zu. Sie zuckte unter peinigenden Gewissensbissen, aber sie wusste nicht, was sie beginnen sollte. Inzwischen rollte der Zug weiter und weiter, sie entfernte sich immer mehr von dem Schauplatz der Tragödie, und je weiter sie fuhren, desto entsetzlichere Bilder gaukelte ihr die Phantasie vor.
Es kam hinzu, dass sie den Hauptmann nicht hassen konnte, trotz seines verächtlichen Verhaltens. Vielleicht, dachte sie — mit der unklaren Logik einer Frau, der das Laster nur schattenhaft bekannt ist — vielleicht wollte er mich wirklich nur mit Gewalt aus dieser Einöde schaffen, weil er sah, dass ich verloren war. Die Ereignisse haben ihm ja recht gegeben, und ich kann Michael trotz seines Heldenmutes von einer gewissen Schuld nicht freisprechen. In solchen Gedanken starrte sie vor sich hin.
Die Bremsen ziehen plötzlich an. Luft zischt. Türen werden aufgeschlagen. Abgerissene Worte flattern gegeneinander.
Eine kleine Station. Überall Militär: Petljurasoldaten, Freiwillige Denikins, Franzosen, Engländer.
Christine fährt hoch. Sie will Michael rufen. Aber Michael befindet sich noch immer im Wagen des Generals.
Die Waggontüre wird aufgerissen. Ein Herr stürzt herein.
Ehe Christine einen Gedanken fassen kann, reisst er sich die Pelzmütze ab. Einen Augenblick starrt sie fassungslos in ein blutverkrustetes Gesicht. Die Augen brennen aufgeregt, der Mund lächelt. Sie erkennt Hauptmann Odojewskij.
Ein wundersames Glück überkommt sie. Sie ist also nicht schuldig an dem Tod eines Menschen. Er ist gerettet! Er ist nicht, von ihr verleugnet, elend zwischen Eis und Trümmern gestorben!
„Kein Wort,“ sagt der Hauptmann rasch. „Jede Sekunde ist verlorene Zeit. Ich werde verfolgt!“
„Verfolgt?“
„Ein Irrtum! Man bezichtigt mich der Spionage. Der Stab des Ukrainischen Direktoriums ist wieder einmal von Raserei befallen!“
„Aber das ist ja Unsinn ... ich werde sofort Michael rufen.“
„Zu spät, Gräfin! Ihr Gatte kann nichts tun. Wir befinden uns noch auf einem Boden, wo nur Petljura befiehlt. Der Verhaftungsbefehl kommt von dem Hetman selbst. Der französische General ist hier machtlos. Erst in Odessa können mich die Franzosen schützen! Gräfin, Sie müssen mir helfen, ich habe keinen Ausweis.“
„Ja, aber — —“
„Schnell.“ Er wirft einen Blick auf den matt erleuchteten Bahnhof hinaus. Der Zug steht. Stimmen nähern sich.
Christine denkt angestrengt nach. Blitzschnell. Die Tür neben ihrem Wagen wird eben zugeschlagen.
Da sieht sie Michaels Pelz neben sich hängen. Ein Griff in die Taschen. Ja, hier sind Papiere! Er wird sicher im Gefolge des Generals nicht nach einer Legitimation gefragt werden.
Impulsiv reicht sie dem Hauptmann einen militärischen Ausweis. Odojewskij, der sich schon zum Sprung aus dem Fenster bereit machte, nimmt das Dokument an sich. Mit Gedankenschnelle verwandelt sich sein Wesen. Er ist vollkommen ruhig. Zwei russische Offiziere treten ein. In ihrer Begleitung ein Reisender. Die Mütze schief im Gesicht.
„Papiere, bitte,“ sagt der Petljura-Offizier. Ein Denikin-Offizier, die Initialen D. auf den Achselklappen, begleitet ihn.
Auf dem Korridor warten Soldaten. Der Bahnsteig ist besetzt. Es ist also wirklich Ernst, denkt Christine und ist glücklich, von ihren Gewissensqualen so schnell befreit zu sein. Sie hätte keine Ruhe mehr gefunden. Sie sieht, wie Odojewskij Michaels Ausweis hinreicht und mit einer lässigen Handbewegung zur Gräfin hin sagt:
„Meine Frau!“
Der Offizier betrachtet lange das Dokument mit Stempel und Unterschrift eines längst verschollenen Divisionskommandanten des Zaren. Reicht es zurück.
Der neue Reisende, der inzwischen schweigend auf dem Korridor gewartet hat, tritt ein. Christine begreift plötzlich die Gefahr, in die sie sich und Michael gebracht hat. Eine drückende Angst presst ihren Atem zurück.
Der fremde Herr grüsst. Der Hauptmann streift ihn mit einem schnellen Blick. Stutzt und lächelt. Er kennt ihn.
Weiss: Mac Lee. Detektiv und Führer der russischen Konterspionage. Hat nur auf den Augenblick gewartet, wo er Alexeij Odojewskij verhaften konnte.
Hauptmann Odojewskij ist aber momentan Graf Michael Kusmetz. Mac Lee weiss nicht, dass der echte Kusmetz sich im Zuge befindet. Er darf kein Aufsehen erregen, sonst greift er wieder in die Kompetenzen des französischen Oberbefehlshabers in Odessa ein.
Während Mac Lee seine Ledertasche verstaut, winkt Odojewskij Christine zu:
„Ich komme gleich wieder ...“
Christine erschrickt über den drohenden Ausdruck des zweiten Reisenden, der sie finster mustert. Mein Gott, schiesst es ihr gleichzeitig durch den Kopf, nun gibt es in dem Zuge ja zwei Grafen Kusmetz!
Und da tritt Michael ein. Ihre Gedanken beginnen sich zu verwirren. Michael legt in Gegenwart des Fremden den Arm in den ihren und bittet sie wegen seiner langen Abwesenheit um Entschuldigung.
Was soll der Mann ihr gegenüber denken?
Zum Glück geht er hinaus. —
Odojewskij ist, kaum dass er den Wagen verlassen hatte, den Korridor entlang gelaufen. Er sah Michael kommen. Trat schnell in ein leeres Kupee, eilte weiter.
Mac Lee ist schon draussen auf dem Bahnsteig und weist dem Kommandanten seine Legitimation mit Petljuras Unterschrift vor.
Odojewskij steht an einem Fenster, knapp neben dem Wagen des Generals, und beobachtet Mac Lee.
Er sieht, wie die Offiziere in seiner Begleitung nochmals erregt den Zug betreten. Alle Wagentüren werden plötzlich geschlossen, die auf dem Bahnsteig befindlichen Reisenden von Soldaten umzingelt.
Odojewskij öffnet die Tür zum Wagen des Generals und stösst auf den Adjutanten.
„Verzeihung,“ sagt er. „Graf Kusmetz bittet Sr. Exzellenz um Unterstützung. Man will ihn verhaften.“
Der