Systematische Fallarbeit in der Logopädie. Группа авторов

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Fallpraxis ist das Verstehen der Lebenshistorie, der Lebenslage und der Lebensperspektive. Die aktuelle Lebenslage kann entwickelt werden, einmal durch eine persönliche Gestaltung, der Selbststeuerung, aber auch durch äußere Lebensumstände und Rahmenbedingungen, die als Fremdsteuerung subsumiert wird. Die logopädische Begleitung der betroffenen Person kann hier verortet werden (image Abb. 2.1).

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      Dieses Verstehen ist der Ausgangspunkt für die Einleitung eines Verfahrens mit konkreten Schritten unter Wahrung von Zuständigkeiten, rechtlichen Bedingungen und ethischen Grundsätzen. Für logopädische Entscheidungen braucht es neben dem fachlichen Spezialwissen ein Grundlagen-, Interaktions- und Organisationswissen (vgl. Messmer 2017). Teilweise können rechtliche, gesellschaftlich-politische, institutionelle und teambezogene Vorgaben ein fach- und fallgerechtes Vorgehen fördernd, aber auch hemmend beeinflussen. Fachliche Qualitätsvorstellungen, die durch gesellschaftspolitische, institutionelle und teambezogene Vorgaben beschränkt sind, stellen dabei eine besondere Herausforderung dar.

      Wenn die fachlichen Qualitätsvorstellungen durch gesellschaftspolitische, institutionelle und teambezogene Vorgaben beschränkt werden, ist eine Klärung oder Auseinandersetzung notwendig.

      Das Leitmotiv der Fallbearbeitung sollte immer die Perspektive der Betroffenen sein. Dabei dürfen Organisationsinteressen in Frage gestellt werden.

      image Fallverstehen und Ethik image

      Menschen haben das Potential, für sich selbst zu entscheiden (Autonomie). Respekt, Würde, Hoffnung und Erwartung der Entwicklung, der Einbezug und die Selbststeuerung leiten sich hieraus ab. Die Logopädin versteht sich als Anwältin der Betroffenen und sichert bzw. wahrt die Autonomie (Baumgartner 2008). Sie wehrt Gefährdungen der Autonomie insbesondere dann ab, wenn die Betroffenen diese Abwehr nicht oder nur schlecht selbst realisieren können. Damit sind zum Beispiel gemeint:

      • unabgesicherte oder stigmatisierende Zuschreibungen in Berichten bzw. ablenkende, irrelevante und ausschmückende Details;

      • Ausschluss von Informationen während oder nach der Therapie (z. B. verdeckte oder nicht bekannt gegebene Notizen mit negativen Wertungen);

      • Verletzung der Pflicht zur Vertraulichkeit.

      Logopädische Berichte sind demnach fokussiert, parteinehmend und schützend (ASHA 2016). Sie bleiben nah an den Schilderungen der Betroffenen hinsichtlich der Informationen über Auslöser bzw. kritische Ereignisse oder psychosomatische Belastungen und meiden interpretative Hinzufügungen ohne datengesicherte Grundlage. Sie würdigen zurückliegende Bearbeitungen des Problems durch die Betroffenen. Der Leser des Berichts erhält neben den fachlichen Informationen ein Bild über die Lebenszusammenhänge mit Beispielen, wie sich das Problem darstellt. Die Betroffenen werden zur Einsichtnahme eingeladen. Diese Vorgaben gelten für Berichte wie auch für mündliche Fallbesprechungen.

      image Universalien der Fallbearbeitung image

      Die Herangehensweise an einen Fall in beratenden Berufen ist professionsübergreifend vergleichbar. Man könnte von Universalien der Fallarbeit sprechen. Vor jeder Entscheidung im therapeutischen Setting gilt folgendes zu beachten:

      • schriftliche Dokumente wie Berichte aus der eigenen und aus fremden Professionen oder auch den Auftrag einzusehen, zusammenzufassen und Fragen für das Gespräch mit den Ratsuchenden zu sammeln,

      • eigene Erfahrungen in ähnlichen Fällen als Vorbereitung zu aktivieren bzw. gegebenenfalls erweitert Intervisions-Kolleginnen zu fragen oder neuere Studienergebnisse im Sinne externer Evidenz einzuholen,

      • vorbereitet zu sein für das Klienten-, Patienten- bzw. Elterngespräch, in dem die Informationen abgeglichen, aktualisiert und ergänzt werden.

      Dieser Start in den Fall wird in Abb. 2.2 dargestellt.

      Informationen einholen, auf Erfahrung rekurrieren und im Gespräch das Anliegen konkretisieren können mehr oder weniger zeitgleich erfolgen oder auch als zeitliches Nacheinander geschehen. Beispielsweise bringt der Klient im Erstkontakt alle schriftlichen Hintergrundinformationen und den Auftrag mit und bespricht diesen mit der Therapeutin. Sofern weder schriftliche Hintergrundinformationen noch ein klarer Auftrag vorliegen, ist das Gespräch der Ausgangspunkt.

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      Abb. 2.2: Start in die Fallarbeit

      image Komplexitätsstufen image

      Jeder Einzelfall bewegt sich, wie schon gesagt, zwischen den Polen von Allgemeinem und Besonderem. In manchen Fällen kann die Logopädin hinsichtlich Entscheidungen und Handlungen auf Routinen zurückgreifen, in Anderen handelt es sich um therapeutisches Neuland. Natürlich ist es dabei ein Unterschied, ob die Logopädin am Berufsanfang steht oder mehrjährig in verschiedenen Handlungsfeldern tätig war. Es lassen sich drei Fallstufen unterscheiden:

      • Routinefall: Unter Rückgriff auf Handlungsempfehlungen oder auf die bisherige Erfahrung ist der Einstieg in die Fallarbeit mit einer klaren Problemdefinition möglich.

      • Komplexer Fall: Handlungsempfehlungen aus der Literatur, aus Leitlinien oder anderen Quellen treffen nicht zu, und der Rückgriff auf Erfahrung ist nur teils möglich. Für den Einstieg in die Fallarbeit bedarf es der Recherche und der Intervision.

      • Hochkomplexer Fall: Handlungsoptionen sind ohne ausführlichere Konsultation anderer Fachpersonen nicht ableitbar, da sich Probleme aus unterschiedlichen Bereichen überlagern; die eigene Erfahrung kann nicht mit Intervision angereichert werden. Der Einstieg in die Fallarbeit wird von einem Supervisor begleitet.

      Die Bemühungen des Faches Logopädie um Evidenz und um die Entwicklung von Leitfäden sind zwingend im Prozess der Professionalisierung, wobei die Praktikerin jedoch der Einzigartigkeit ihres Falls folgt. Neben einer wissenschaftlich fundierten Fachkompetenz braucht es eine situative Fallkompetenz, um individuelle Lösungen zu entwickeln. Die Logopädin handelt, indem sie subjektives Geschick und intersubjektives Wissen zusammenbringt. Dass ein Mangel an Routine die Logopädin verunsichert, ist offensichtlich, aber auch ein sehr hohes Maß an Routine birgt ein Risiko: Handelnde neigen dazu, ihre Aktionen so zu gestalten, dass sie den geringsten Widerstand erwarten dürfen. Messmer (2017) hat dies als Wind-Tunnel-Effekt der Profession bezeichnet.

      image Situative Kompetenz image

      Mit situativer Fallkompetenz ist die Anwendung der Fachkompetenz zur situationsgerechten, schlüssigen und zielführenden therapeutischen Aktion im jeweiligen Fokus der Kontexterfassung, Diagnose,

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