Es geschah in Heiliger Nacht. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Es geschah in Heiliger Nacht - Группа авторов страница 9

Es geschah in Heiliger Nacht - Группа авторов

Скачать книгу

allein ohne Freunde und Verwandte sind. Ich habe beinahe das Gefühl, hier überflüssig zu sein.«

      Kaum hatte der Pfarrer diese Worte geäußert, so fühlte er, dass sie mehr Wahrheit enthielten, als er selbst ahnte. Er hatte den Eindruck, dass seine Anwesenheit Selma und den Kirchenältesten nicht nur überraschte, sondern geradezu belästigte. Es war, als wünschten die beiden, er möge so rasch wie möglich verschwinden, ehe etwas gesagt werden oder geschehen könnte, was sie lieber ungesagt und ungeschehen lassen wollten.

      Hätte der Pfarrer der Versuchung, sich dieser unangenehmen Situation zu entziehen, Folge leisten wollen, so hätte er ganz einfach Abschied nehmen und heimgehen können. Aber er hatte das Gefühl, dies würde einer Fahnenflucht gleichkommen. In diesem Falle wäre es um seinen Weihnachtsfrieden geschehen. Vielleicht lag auch ein höherer Sinn oder eine Führung dahinter, dass er gerade an diesem Heiligen Abend in Selmas Hütte eintreten und hier einen der Kirchenältesten hatte vorfinden müssen.

      Und so tat er denn, was er bei seinen Hausbesuchen meistens zu tun pflegte: Er holte sein Gesangbuch hervor.

      »Darf ich mit Selmas Erlaubnis einen Weihnachtspsalm singen, ehe ich gehe?«

      Selma nickte. Sie saß mit über der Brust verschränkten Armen da.

      »Vielleicht singt der Kirchenälteste mit?«, meinte der Pfarrer und rückte einen Stuhl an dessen Seite. »Johannes As verfügt über die schönste Stimme in der ganzen Gemeinde.«

      Aber Johannes sang nicht mit.

      Der Pfarrer musste allein singen. Noch nie war ihm das Singen der Worte »Sei gegrüßt, du schöne Morgenstunde« so schwergefallen. Er fand keinen Widerhall in der Stube, weder im natürlichen noch im geistlichen Sinn. Ihm schien allmählich, er hätte sich auf ein unmögliches Unternehmen eingelassen. Er hatte vorgehabt, alle vier Strophen zu singen, brachte aber nur zwei davon zustande. Er schloss mit den seltsamen, sich erst so hoch emporschwingenden und dann so tief absinkenden Worten:

      Wärmen,

      nähern,

      eins zum andern,

      die da wandern

      ohne Liebe

      und aus trüben

      Brunnen schöpfen.

      Der Pfarrer wollte soeben mit dem Vorlesen eines Weihnachtstextes beginnen, als der Kirchenälteste ihm die Hand auf den Arm legte.

      »Es dürfte genügen«, sagte er, »Selma will bestimmt nicht mehr hören.«

      Der Pfarrer blickte verwirrt auf. Er war nicht gewohnt, solchermaßen in einer Hausandacht unterbrochen zu werden, am allerwenigsten von einem Kirchenältesten.

      Die Ungemütlichkeit und die Spannung wurden schließlich unerträglich. Dem Pfarrer blieb nur die Wahl zwischen zwei Dingen: entweder seines Weges zu gehen oder aber diese Leute zu einer Aussprache zu bewegen. Da fiel sein Blick auf den Küchentisch. Dieser war voll beladen mit zum Teil geöffneten, zum Teil noch verschnürten Paketen, die der Kirchenälteste mitgebracht hatte. Es war klar ersichtlich, dass der Besuch des Pfarrers die beiden Menschen beim Öffnen der Weihnachtspakete unterbrochen hatte. Der Pfarrer ärgerte sich, dass er gerade den Heiligen Abend für seinen Besuch in Selmas Hütte gewählt hatte. Es war – ja, es war beinahe ein wenig taktlos. Er hatte es so gut gemeint, aber vielleicht doch nicht richtig gehandelt. Er entschloss sich zu gehen. Mochte aus seinem eigenen Weihnachtsfrieden werden, was wollte. Jedenfalls wollte er nicht den Frieden anderer zerstören. Er griff nach seinem Hut.

      »Ich merke, dass mein Besuch ungelegen kam«, sagte er. »Und ich bitte um Entschuldigung, dass ich mitten in der Weihnachtsbescherung gestört habe.«

      Er streckte Selma die Hand hin. Sie erhob sich nicht, reichte ihm aber die eine Hand, ohne die andere von der Brust zu heben. Schlaff, wie gefühllos ruhte ihre Rechte in der seinen.

      Er wandte sich an den Kirchenältesten.

      »Adieu, Johannes, wir sehen uns morgen früh.«

      Doch Johannes bot ihm die Hand nicht. Er saß vornübergebeugt, die Hände zwischen die Knie geklemmt.

      »Nein, der Pfarrer soll nicht gehen«, sagte er. »Er soll sich ein Weilchen zu uns setzen. Will der Herr Pfarrer nicht wieder Platz nehmen?«

      »Gewiss«, erwiderte der Pfarrer, »das will ich gerne tun. Wünscht der Kirchenälteste vielleicht etwas mit mir zu besprechen?«

      »Das hängt von Selma ab«, meinte der Kirchenälteste, ohne den Kopf zu heben.

      Der Pfarrer glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wie sehr er auch daran gewöhnt war, dass die Leute ihm ihre Geheimnisse anvertrauten und ihn in ihre intimsten Tragödien einweihten, vermochte er sich gleichwohl nie des seltsamen Gefühles zu erwehren, dass die Schwierigkeiten der anderen ihn persönlich so tief betrafen, als wären sie seine eigenen. Er fühlte die Gewissensbisse anderer so intensiv, als wären sie seine eigenen, und schämte sich anderer Irrtümer und Fehltritte gerade so, als hätte er sie selbst begangen. Und er glaubte in diesem Augenblick, selbst der Schuldige zu sein, falls zwischen diesen beiden Menschen ein Unrecht bestand.

      »Es hängt von Selma ab«, wiederholte der Kirchenälteste. »Wenn sie nicht will, schweige ich.«

      Der Pfarrer blickte Selma an. Ihr Gesicht zeigte die gleiche unergründliche und stolze Gleichgültigkeit auf, die er stets darin gelesen hatte.

      »Nun, Selma«, sprach der Pfarrer leise, indem er den Kopf senkte. »Soll der Kirchenälteste reden oder soll ich meines Wegs gehen?«

      »Er soll reden«, drang es tonlos über Selmas graubleiche Lippen.

      Eine lange Weile herrschte Stillschweigen.

      Der Pfarrer sah den Kopf des Kirchenältesten immer tiefer sinken.

      Er stöhnte leise, und der Pfarrer fühlte den Schweiß auf seiner eigenen Stirne ausbrechen.

      Schließlich kam es, kaum vernehmbar, von Johannes As:

      »Sie sollen wissen, Herr Pfarrer, dass sie meine Mutter ist.«

      So, nun war es gesagt.

      Stille herrschte in der Stube. Man vernahm nur das leise Ticken der Weckeruhr auf der Kommode und das Zischen eines Kohlenstückes im Herde.

      Doch war es, als hätte plötzlich der Friede seinen Einzug in die Hütte gehalten. Ein lange vermisster Friede. Es war, als würde es lichter. Als hätte alles Schwere, Eingeschlossene und Graue sich wie Nebel in der aufgehenden Sonne verflüchtigt.

      Der Pfarrer hob langsam den Kopf und richtete den Blick auf Selma. Diese ließ ihr stolzes Haupt bis auf die Brust sinken. Sie schlug die Hände vors Gesicht, ihre starken männlichen Schultern bebten, und jäh brach sie in Tränen aus.

      Der Pfarrer überlegte eine Sekunde, dass keiner ihm glauben würde, wenn er den Menschen erzählen würde, er habe Selma weinen gesehen. Tränen waren das Letzte, woran man im Zusammenhang mit Selma denken mochte. Jetzt aber schien es, als wollten alle während eines ganzen Lebens zurückgehaltenen Tränen hervorquellen. Der Kirchenälteste rückte seinen Stuhl näher an den ihrigen

Скачать книгу