Emma schreibt. Armand Amapolas

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Emma schreibt - Armand Amapolas Emma auf Teneriffa

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Hofgesellschaft gar nicht gab. Es musste erfunden werden. Das zu tun hatte Tanja von Dückers zu ihrem Daseinszweck erhoben. Damit hatte ihre Revue ein »Alleinstellungsmerkmal«. Jede der Klein- und Mittelstädte des von Planungsbürokraten erfundenen, aber völlig kontur- und mittelpunktlosen Emscher-Lippe-Raums bemühte sich so wenig wie möglich aufzufallen, oder allenfalls durch kleine Triumphe über eine Nachbarin. Von Dorsten oder Waltrop aus gesehen sprühten Städte wie Bochum und Essen, ein paar Kilometer weiter südlich gelegen, nämlich nur so vor Glamour und Reichtum.

      Dieser Sumpf aus Minderwertigkeitskomplexen, Neid und verstecktem Stolz – dem Stolz, trotz alledem bislang nicht untergegangen zu sein, nicht zu Geisterstädten oder Slums verkommen zu sein wie ähnliche einstige Zechenstädte in Nordfrankreich, England oder den USA, sondern hier und dort durchaus solide, ja gute Geschäfte zu machen, manchmal sogar weltweit: dieses Biotop war der fruchtbare Nährboden der Lippe Revue, seit mehr als zwanzig Jahren schon.

      Emma kannte niemanden, der sicher zu sagen wusste, ob die Lippe Revue wirklich Geld einspielte oder nur ein kostspieliges Hobby des Dückerpaares war. Zahlen wurden nicht veröffentlicht. Die offizielle Anzeigenpreisliste, das hatte Emma bald begriffen, war Fassade. »Über alles lässt sich reden«, war einer von Tanjas Lieblingssätzen. Dabei beliebte sie ihrem Gegenüber – oder auch irgendjemand anderem im Raum – komplizenhaft zuzuzwinkern.

      Immerhin zahlte Tanja ihren Autorinnen und Autoren – es gab deutlich mehr Autorinnen und Fotografinnen als männliche Kollegen, eine erfrischende Abwechslung zu den Redaktionen, die Emma ansonsten kennengelernt hatte – anständige Honorare. Bessere jedenfalls als Emma in ihrer Zeit als »Freie« bei Ruhrpott-Blättern je bezogen hatte. Sogenannte freie Journalisten, auch das hatte Emma inzwischen begriffen, waren vor allem frei von jeder Sicherheit. Und so frei, sich neben der Schreiberei oder dem Fotografieren noch andere Einkünfte suchen zu dürfen. Also: zu müssen. Wo keine Eltern bereitstanden, die Anschubfinanzierung in den Journalistenberuf zu finanzieren, blieb nur der Zweitjob als Kellner oder Taxifahrer. Oder sich in einer Agentur zu verkaufen, wie Emma das sah. PR zu machen, das Gegenteil von Journalismus. Public Relations. Emma hatte es immer abgelehnt, gleichzeitig für eine Redaktion und für einen möglichen Anzeigenkunden zu arbeiten. »Sie haben so einen frischen Schreibstil: Wollen Sie nicht etwas für unser Firmenjubiläum schreiben, für die Festschrift?« Solche Fragen waren ihr des Öfteren gestellt worden. Immer hatte sie freundlich verneint. Jedenfalls solange sie mit Jörg zusammengelebt hatte. Der bezog als Lehrer immerhin ein festes Gehalt. Gemeinsam kamen sie über die Runden.

      Doch Jörg und seine Sicherheiten lagen jetzt ebenso hinter ihr wie ihre erste und bislang einzige Festanstellung als Redakteurin. Die letzte Ausgabe der Halterner Post war nämlich vor einem halben Jahr erschienen, begleitet von Gewerkschaftsdemonstratiönchen und ein paar wirklich rührenden Nachrufen. Sogar auf der Medienseite der Süddeutschen war das Ende der Halterner Post betrauert worden. Dabei, vermutete Emma, hatten sie in München »Haltern« erst mal googeln müssen.

      Da Emma nur einen befristeten Vertrag hatte – wie alle Jüngeren in der Redaktion –, stand sie, anders als die älteren Kollegen, ohne Abfindung da. Sie war arbeitslos. Und so gut wie mittellos. Und deshalb geradezu glücklich, als sich Tanja von Dückers bei ihr meldete: »Mädchen, wie isses, wollen Sie nicht für die Revue schreiben?« Die Lippe Revue war für Tanja von Dückers immer nur »die Revue« oder auch »das Magazin«. Diese Sprachregelung hatte sich längst auch in Rathäusern, Kanzleien und auf Golfplätzen eingebürgert. Tanja von Dückers verbrachte viel Zeit auf den erstaunlich zahlreichen Golfplätzen der Emscher-Lippe-Region. Auch wenn sie selber gar nicht Golf spielte, was sie mit dem immer wieder wirkungsvollen Satz begründete: »Danke, ich habe noch Sex.« Ihr Mann spielte dafür umso leidenschaftlicher, was immer das für das Sexleben des Paares zu bedeuten hatte. Dass Castrop-Rauxel sich, im letzten Jahrhundert schon, einen Golfplatz zugelegt hatte, war Emma in ihrer Heimstadt Herne nicht entgangen. Das stand sogar in der Herner Lokalzeitung, damals, obwohl die sich sonst für Ereignisse außerhalb der engen Stadtgrenzen nicht interessierte. Im Ruhrgebiet gab sich jede Stadt als Kosmos für sich selbst. Eine Sonne, allerdings ohne Trabanten. Eine jede von ihnen wurde über die Jahre fahler als die andere. Sie nahmen sich gegenseitig das letzte bisschen Licht. Was die Stadtoberen aber nicht zu bemerken schienen. Ihre Gehälter flossen ja weiter. Arbeitslos wurden andere. Und leben ließ es sich hier ja durchaus.

      Dank Tanja hatte Emma erfahren, dass es im Ruhrgebiet und drumherum längst mehr Golfplätze gab als Zechen. Viel mehr. Sogar mehr als Bundesliga-Fußballvereine. Und das wollte was heißen, im Dreieck zwischen Schalke, Dortmund und dem VfL Bochum.

      Emma hatte Tanjas Anfrage in ihrer Mailbox gefunden, gleich nach ihrer fluchtartigen Rückkehr aus Teneriffa. Eigentlich hatte sie auf der Kanareninsel ja Ruhe finden wollen, Distanz, Zeit zum Denken, nach dem Ende der Halterner Post und ihrer Karriere. Stattdessen war sie dort über Leichen förmlich gestolpert und beinahe einem Triebtäter zum Opfer gefallen. Und beinahe hätte sie sich dort verliebt – wäre der Triebtäter nicht dazwischengekommen und all das, was sie über das zweite Leben ihrer geliebten Oma Ilse hatte erfahren müssen. Ilse Schneider, gewesene Fischhändlerin in Wanne-Eickel, als Präsidentin einer Eigentümergemeinschaft Herrin eines Apartmentungetüms in Puerto de la Cruz, hatte Emma in ebendiesem Haus eine Wohnung vererbt. Die gehörte Emma jetzt, immer noch – und immerhin. Neben ihrem ältlichen Auto, ihrem Mac und einigen gediegenen Möbeln stellte sie ihr einziges Vermögen dar.

      Vor einem Jahr hätte Emma nur gelacht und ohne weiteres Nachdenken freundlich abgelehnt. Jetzt kam es ihr vor, als sie Tanja von Dückers’ Frage hörte, als habe jemand im Schummer ihrer kleinen Bochumer Wohnung ein Licht angeknipst. Zwar neigte sie spontan dazu, dennoch abzusagen, aber sie nahm die Anfrage als Zeichen: es gibt Licht am Ende des Tunnels! Emma würde nicht zur Dauerarbeitslosen werden, zur Hartzerin gar. Was eine für sie schier unvorstellbare Perspektive war, aber eine realistische, wie sie sich eingestehen musste. Emma kannte mehrere junge Männer und Frauen, die mit ihr an der Fachhochschule in Buer Journalismus studiert hatten und die jetzt »Aufstocker« waren, wie das so euphemistisch hieß; die von Kleinstverdiensten hier und da und im Übrigen von Sozialhilfe oder Spenden der Eltern lebten, mehr recht als schlecht nur dann, wenn nicht alle Einnahmequellen dem Finanzamt bekannt werden mussten.

      Immerhin hatte Emma ja dank ihres kanarischen Abenteuers in die richtig große weite Welt des Journalismus hineingeschnuppert. Sie hatte die Bildzeitung beliefern dürfen, zwar nicht mit eigenen Texten – die waren alle umgeschrieben worden –, aber immerhin mit Informationen. Für das Honorar hätte sie in ihrer Zeit als Freie in Wanne-Eickel Dutzende von Lokalteilseiten komplett voll schreiben müssen. Abstrus, fand sie. Abstrus war ihr auch erschienen, was Mike Dorenbeck zu erzählen wusste, aus seiner Zeit bei Gazetten in Hamburg. Mike – eigentlich Michael –, der jetzt, ganz und gar freiwillig und offenbar gern, die Ein-Mann-Redaktion der deutschsprachigen Inselzeitung auf Teneriffa darstellte. Mike, Michael – eigentlich stand ihm der längere, seriösere Name besser, fand Emma –, der um ein Haar ihr – ja was eigentlich, ihr Freund, ihr Geliebter geworden wäre? Wenn sie sich nicht entschieden hätte, Teneriffa fast fluchtartig zu verlassen. Nach ihrer Fast-Vergewaltigung an der Geisterquelle hatte sie nur noch weggewollt von der Insel, Abstand gewinnen. Nie zuvor hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt, so hilflos. Wieder zuhause, hatte sie vor dem Nichts gestanden. Sie hatte keinen Job, keinen Plan, niemanden, dem sie erzählen konnte oder wollte, was da geschehen war, an der Geisterquelle.

      Noch immer, viele Monate später, schreckte Emma oft nachts auf, schweißbedeckt, von Geistern bis ins Ruhrgebiet verfolgt. Besonders verstörend fand sie, welche Rolle ihre Oma Ilse in diesen Alpträumen spielte. Emma hatte keine Lust, in ihrer Wohnung herumzuhängen oder sich bei Freundinnen auszuheulen – ja, bei welcher denn eigentlich? Emma wurde klar, dass sie so etwas wie die berühmte »beste Freundin«, der frau alles anvertraut, gar nicht hatte. Nie gehabt hatte. Ihren Eltern mehr zu erzählen, als in den Zeitungen gestanden hatte, das kam für Emma schon gar nicht infrage. Die beiden schienen auch voll und ganz glücklich und beruhigt zu sein, als Emma sich darauf beschränkte, ihr »Abenteuer« ins Komische zu wenden und anzudeuten, Oma Ilse habe auf Teneriffa nicht

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