Herzstück Musizieren. Группа авторов

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man solche Interaktionsprozesse als wesentlichen Bestandteil der Praxis rekonstruieren kann, zeigt die folgende Perspektive.

       2. Individuell fördern

      Die hier vorgestellte zweite Perspektive auf den instrumentalen Gruppenunterricht richtet sich auf die individuelle Förderung in der Gruppensituation und die damit verbundene Frage zum Verhältnis von individueller Rückmeldung bei Fehlern und der möglichen Gefahr einer negativen Exposition. Zu bedenken ist dabei, dass der instrumentale Gruppenunterricht etwa im Vergleich zum Klassenunterricht in der allgemeinbildenden Schule wie kaum ein anderes Unterrichtssetting Leistungsdifferenzen präsent werden lässt, weil sie für alle hörbar werden (Heberle und Kranefeld 2014).

      An einer Unterrichtssequenz soll im Folgenden gezeigt werden, wie ein Lehrender versucht, die Gefahr einer Exposition zu umgehen, und wie sich die damit verbundene Aushandlung von Differenz in einem Gruppenprozess vollziehen kann. Im Gegensatz zum Vorherigen wird nun aber nicht die Oberflächenstruktur des Unterrichts betrachtet, sondern die Interaktion der beteiligten Akteure als Tiefenstruktur des Unterrichts in den Blick genommen.

       Zum Kontext der Situation

      Es handelt sich um den instrumentalen Gruppenunterricht Gitarre in einer 2. Klasse in einer Grundschule im Ruhrgebiet. Die Kinder (drei Jungen und zwei Mädchen) haben erst vor wenigen Wochen mit dem Gitarrenspiel begonnen. Zu Beginn der Stunde initiiert der Lehrer eine Übung in der Gruppe: Er weist jedem Kind einen unterschiedlichen Ton einer Skala zu und demonstriert, wie dieser zu greifen ist. Jeder Schüler und jede Schülerin ist also für einen der Töne verantwortlich, die nun „wie in einer Kette“ aneinandergereiht werden sollen. Der erste Schüler beginnt, übergibt an den nächsten, der dann an die neben ihm sitzende Schülerin übergibt usw. Der Lehrer beschließt jeweils die Reihe und lässt den ersten Schüler (initiiert durch eine Geste) wieder beginnen. Es werden auf diese Weise mehrere Durchgänge ohne Unterbrechung wiederholt, bei denen ein Schüler auffällig Probleme bei der Tonerzeugung hat. Sein Ton schnarrt in drei von vier Fällen erheblich und durchbricht so das ansonsten eher homogene Klangbild der Gruppe. Aufgrund des Nacheinanders wird die differente Klangerzeugung unüberhörbar.

      Auf unsere Frage nach der Stunde an den Lehrer, warum er in dieser Situation nicht auf diese Differenz reagiert habe, gibt der Lehrer zu bedenken, dass er den Jungen in dieser Situation nicht bloßstellen wollte, den abweichenden Klang also bewusst übergangen habe. Das „Ignorieren der Lern- und Leistungsunterschiede“ bezeichnet Franz E. Weinert als eine typische „passive Reaktionsform“ (Weinert 1997, 51)9 auf Heterogenität. Offensichtlich steht aber bei diesem Lehrenden nicht ein passives Ignorieren nach Weinert im Zentrum, sondern eher ein Ignorieren als aktive Reaktionsform, das mit der Wahrnehmung des differenten Klangs verbunden ist, aber auch mit der Entscheidung, diesen bewusst nicht zu thematisieren. Die Reaktion des Lehrenden könnte hier als Positionierung in einer Dilemma-Situation im Spannungsfeld von individueller Förderung und möglicher Gefahr der Exposition verstanden werden (Heberle und Kranefeld 2014; Heberle und Kranefeld 2012 b).

      In einer Interaktionsanalyse kann nun in Stufen verfolgt werden, welche Konsequenzen dieser Versuch des Ignorierens auf die folgende Interaktion in der Gruppe hat:

       Phase 1: Thematisierung des Übergangenen durch einen Schüler und Zurückweisung durch den Lehrer

      Da der Lehrer Jonas Spiel nicht korrigiert, meldet sich Martin: „Bei Jona hört man das nie richtig!“ Darauf antwortet der Lehrer: „So, du hältst jetzt mal deinen Schnabel!“, und macht eine entsprechende Geste mit dem Zeigefinger vor dem Mund, steht auf und geht aus dem Kreis heraus, um die Gitarre eines anderen Schülers neu zu stimmen.

      Die kurze Sequenz zeigt, dass die erste Strategie des Lehrenden, die Thematisierung der Differenz zu übergehen, gescheitert ist. Dadurch, dass nun Martin den differenten Klang thematisiert, erfordert die Fortsetzung des Versuchs der Nicht-Thematisierung ein aktives Unterbinden der Schüleräußerung durch den Lehrer. In sehr deutlichen Worten unterbricht der Lehrer den Schüler und weist das Thema ab. Der Verzicht auf eine weitere Kontextualisierung oder Erklärung, warum Martins Hinweis nicht relevant sein soll, bleibt aus und soll nicht Thema werden. Dass der Lehrer diese Intervention nur schnell und leise ausspricht, verstärkt den Eindruck, dass es in dieser Situation nicht um Klärung geht, sondern eher um eine Strategie des Überspielens oder Unterbindens. Möglicherweise zeigt sich hier eine weitere Facette der Dilemma-Situation: Wenn der Lehrer nun begründen würde, warum er Jonas Spiel in diesem Augenblick nicht thematisieren möchte, würde er den Schüler wiederum mehr ins Zentrum der Beobachtung rücken und ihn ebenso exponieren. Dazu passt auch sein Herausgehen aus der Situation, um eine Gitarre zu stimmen, als möglicher Versuch der Unterbrechung auf einer anderen Ebene.

      Das „nie“ in Martins Beschreibung verweist dagegen auf die Persistenz des Problems, die wiederholte Abweichung vom Klang macht eine Problemlösung für den Schüler umso dringlicher. Eine Lesart für die Formulierung „hört man das nie richtig“ kann sich erschließen, wenn man ein auch denkbares „spielt das nie richtig“ dagegen setzt: Die Äußerung Martins zielt nicht vorrangig auf einen Spielfehler von Jona, sondern darüber hinaus auf die Konsequenzen, die dieser für das Klangergebnis der Gruppe insgesamt hat.

       Phase 2: Lösungsversuche innerhalb der Gruppe der Schülerinnen und Schüler

      Als der Lehrende aus der Gruppe herausgeht, um eine der Gitarren abseits der Gruppe neu zu stimmen, gibt er die Anweisung, dass die Schülerinnen und Schüler die Übung nun allein fortsetzen sollen. Die Schülerinnen und Schüler starten entsprechend einen Durchgang. Wieder schnarrt Jonas Ton, was zu folgender Kommunikation in der Gruppe führt:

      Martin: „Jona, mach mal richtig!“

      Henry: „Stups nicht immer so!“

      Martin: „Jona macht immer so.“ [Martin macht einen schnarrenden Ton auf der Gitarre.]

      Laura: „Mann, Jona macht immer falsch!“

      Martin: „Ja, Jona macht immer…“

      Jonas Tonerzeugung bleibt also Thema in der Gruppe. Hier finden sich unterschiedliche Formen der Rückmeldung, wobei die Schülerinnen und Schüler auf den ersten Blick nun teilweise Lehrerfunktionen übernehmen: vom bloßen Auffordern, es richtig zu machen, über einen ersten Ansatz einer Diagnostik (Stupsen) bis hin zu Martins Versuch, den Fehler auf seinem eigenen Instrument zu imitieren. Letzteres könnte sowohl in der Absicht geschehen zu verstehen, wie dies technisch zustande kommt, als auch zu demonstrieren bzw. Jona zurückzumelden, wie sein Ton überhaupt klingt.10 Die viermalige Nennung des Namens „Jona“, die viermalige Verwendung des Begriffs „immer“ und die insistierende Wiederholung der Satzstruktur „Jona macht immer“ in dieser sehr kurzen Gesprächssequenz spiegelt die Brisanz, die der abweichende Klang offensichtlich für die Gruppe hat.

       Phase 3: Erneute Deutung der Thematisierung als Störung

      Als der Lehrer mit der gestimmten Gitarre zurückkommt, wird die Übung nun wieder mit allen Schülerinnen und Schülern und dem Lehrer fortgesetzt. Wiederum greift Martin das Thema auf und sagt an den Lehrer gewandt: „Warum macht der Jona eigentlich nicht richtig?“ Darauf antwortet der Lehrer wiederum: „So, du hältst jetzt einfach mal deinen Schnabel, dann kann das hier nämlich auch richtig laufen.“ Erneut beginnt ein Durchgang der Übung.

      Offensichtlich spitzt sich die Situation zunehmend zu: Martin thematisiert wiederum

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