Ein Bettler baut eine Stadt. Robert Heymann
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Er gab es auf.
Auf der Straße spielten und lärmten die Kinder, ein Milchwagen rasselte vorbei. Knut ging wie im Traum.
War denn das alles wahr, was er erlebt hatte? War es nicht ein wüster Traum, ein Gebilde seiner Phantasie? Hat er wirklich eine Frau befreit, die ihn so augenscheinlich belogen hat? Wollte sie verschwinden, damit er sie nicht wiederfinden konnte?
Er hätte zur Polizei gehen können. Aber er fühlte, daß er sie dann für immer verlieren würde.
3
Ja, nun war mehr als ein Jahr verstrichen, seit er in Ellis Island angekommen war.
Nun hatte er Neuyork kennengelernt, diese phantastisch nüchterne Stadt, in der ununterbrochen die Fluten eines ungeheuren Verkehrs zusammenprallen, um sich an fünfzigstöckigen Häusern wie die Meeresbrandung an Felsklippen zu brechen.
Für Knut Storting hatte dieses gigantische Gemälde des Ringens, der gefesselten Arbeit und eines märchenhaften Reichtums etwas Überwältigendes.
Jäh und in ununterbrochener Flut wogt das Leben durch die gewaltigen Pulsadern Neuyorks.
Nahe der Bowery leben die Ratten: die armseligen Trödler, Inhaber elender Bekleidungsanstalten, Schauspieler an minderwertigen Theatern und die Besitzer der Kneipen.
Welch ein Rätsel: die prächtigen Kirchen, die so vielen Sekten, die in dieser Stadt nebeneinander leben, als Stätten der Andacht dienen. – Heuchelei? Feigheit? – Wirkliche Suche nach Gott?
Knuts scharfes Auge hat längst entdeckt, wie unterminiert von Elend, Unbildung und Schande diese glanzvolle Stadt ist:
Östlich von der Bowery das Quartier der russischen Juden. Armselige Gassen, ein modernes Ghetto. Zwischen Bowery und Broadway, wo sich die Ströme des rollenden Reichtums hin und her ergießen, die armseligen Quartiere italienischer Tagelöhner und Orgelspieler: Welch eine Anhäufung von bitterstem Elend und trübster Bestimmung!
Und die Park-Avenue, die über die Fünfte Avenue triumphiert: diese Massenansammlungen von gewaltigen monumentalen öffentlichen Bauten und Kunstanstalten, dieses Meer von Villen und Palästen, wo sich das Geld im gesicherten Besitz seiner Millionen organisiert hat! Schon kannte Knut die verschiedenen Ziele der verschiedenen politischen Parteien. Er studierte das Volk und wunderte sich: Neben der drückendsten Armut welch eine Bildungslosigkeit der Reichen! Welche Roheit unter den untersten Schichten – dabei eine große Anzahl von Schulen, eine gewaltige öffentliche Wohltätigkeit!
Er durchschaute bald die gewaltige Korruption, die dieses Riesenräderwerk der Arbeit durchzieht und seine Tätigkeit hemmt.
Er mußte eine Betätigung seines innersten Wesens finden, das lag nun einmal in seiner Natur. Die Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit war abgebrochen. Also vertiefte sich Knut mit Feuereifer in die Probleme dieses für ihn neuen Lebens. Er fühlte sich bereits als Amerikaner, freilich als Organisator, als Reformer!
Überraschend schnell hatte er nach jenem Abenteuer mit „Violet“ eine gutbezahlte Stellung in einer deutsch-amerikanischen Privatschule erhalten. Sie war von einem Komitee gegründet worden, dem viele Geistliche angehörten.
Er lehrte Naturwissenschaft. Von Anfang an fiel es ihm schwer, sich an die veralteten Vorschriften des Lehrplans zu halten.
War es nicht viel wichtiger, die Wahrheit zu lehren, jene klare, reine wissenschaftliche Wahrheit, für deren Erforschung die größten Geister ihr Leben lang tätig gewesen. Es befriedigte ihn mehr, aus den Augen seiner Schüler atemlosen Enthusiasmus zu lesen, als nach dem Programm der Schule Unterricht zu erteilen. Schon nach kurzer Zeit beobachtete man seine Lehrtätigkeit mit Mißtrauen. Er kümmerte sich nicht darum. Er merkte kaum etwas davon. Er befand sich ja in dem freien Amerika! In einem Lande, das auch ihm mit der Selbständigkeit seines Geistes die höchsten Privilegien einer freien Menschheit verlieh.
„Sie haben allen Ihren wissenschaftlichen Untersuchungen die Bibel zugrunde zu legen“, sagte der Direktor des Instituts. „Wir warnen Sie ausdrücklich vor Irrlehren, also etwa Grundsätze zu vertreten, die Darwin zum Schaden der Menschheit und der Religion erfunden hat.“
Knut Storting schüttelte den Kopf.
„Wie können Sie dann von einem ‚naturwissenschaftlichen‘ Unterricht sprechen?“
„Die Frage löst der Schulplan“, war die Antwort.
Knut versuchte zuerst, Wahrheit und Lehrplan zu verbinden. Aber schnell siegten Begeisterung und wissenschaftliche Überzeugung über solche Bedenken. Er lehrte seine Schüler, diese stolzen Vertreter des stolzesten Volkes, den Lehrsatz von der Vergänglichkeit aller Menschenwerke.
„Nur der Wechsel ist beständig.“
„Aber unsere Bauwerke, unsere Wolkenkratzer, unsere Petroleumquellen, unser Reichtum?“ wandten die Schüler ein.
„Es gibt kein unbewegliches Heute. Die Saurier sind untergegangen, diese mammuthaften Säugetiere. Die größten Spielarten sind am schnellsten zum Aussterben verurteilt. So ist auch das Leben des Zivilisationsmenschen ein Kulminationspunkt, der bereits auf den Wechsel zum Primitiven hinzeigt. Nur das Einfache behauptet sich. Alles ist Entwicklung, und die Spielart Mensch, aus unfaßbar einfachen Anfängen emporgezüchtet, muß wieder zurück zur einfachsten Lebensform oder untergehen.“
Solche Lehren vertrugen sich nicht mit dem Ewigkeitsdünkel der amerikanischen Rasse, die kein Morgen gelten lassen will, die das Prinzip des Unveränderlichen beansprucht und sich als höchstentwickelte Nation betrachtet.
Knut Storting aber brachte seine Schüler zum Nachdenken. Fragen tauchten auf, die zu beantworten dem Schulleiter höchste Verlegenheit bereitete.
Er sah das Wirken des deutschen Lehrers mit wachsender Entrüstung an.
Bald aber trat Knut Storting in einer Form an die Öffentlichkeit, die seinen Vorgesetzten noch weniger behagte als sein Unterrichtssystem.
Er beteiligte sich leidenschaftlich an den gewaltigen wirtschaftlichen Kämpfen, die die Vereinigten Staaten durchtobten. Höher als vorher reckte die Korruption ihr Haupt. Wirtschaftliche Probleme drängten nach Lösung. Die Plutokratie beherrscht mit Trusts und den verwegensten Privilegien gleich einem einzigen Despoten unumschränkt die Staaten.
Bald wurde Knut in den Trubel der Parteikämpfe gezogen. Seine Reden in der Öffentlichkeit, seine rücksichtslosen Urteile über die Syndikate, sein furchtloses Eintreten für die von ihm gehegten Ideale zogen ihm allmählich das schärfste Mißfallen der Schule zu, in der er tätig war.
Der Direktor ließ ihn eines Tages zu sich kommen und sagte:
„Mr. Storting, ich habe mehr und mehr die Überzeugung gewonnen, daß Sie Ihre Stellung an unserer Schule verkennen.“
Knut wollte auffahren, sich auf die persönliche Freiheit berufen, aber der Direktor ließ ihn nicht aussprechen.
„Verstehen Sie mich recht! Ich weiß, was Sie sagen wollen! Sie kommen von Deutschland. Sie vergessen, daß Sie sich in Ausübung Ihrer Lehrtätigkeit unbedingt dem Programm anpassen müssen, das unserer Schule vorgeschrieben ist!“
„Und meine Schüler,