Gesammelte Werke. Heinrich Mann

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Gesammelte Werke - Heinrich Mann

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Warum? Weil sie hier drinnen waren? Die waren wohl verrückt.“

      „Wir sind nicht verrückt“, behauptete Diederich. „Fräulein Guste, Sie haben doch einen Brillanten.“ Er zeichnete drei Herzen, versah sie mit einer Inschrift und ließ die Mädchen das Werk enträtseln. Da sie sich kreischend abwandten, sagte er stolz: „Wozu heißt dies das Liebeskabinett.“

      Plötzlich stieß Guste einen Schreckensruf aus. „Hier sieht jemand zu!“

      Hinter dem Spiegel hervor streckte sich ein geisterbleicher Kopf!... Käthchen war schon bei der Tür. „Kommen Sie wieder her“, rief Diederich. „Es ist bloß gemalt.“

      Der Spiegel hatte sich auf einer Seite von der Wand gelöst, man konnte ihn noch weiter umwenden: da trat die ganze Figur heraus.

      „Es ist die Schäferin, die draußen über den Bach springt!“

      „Jetzt hat sie es hinter sich“, sagte Diederich; denn die Schäferin saß da und weinte. Auf der Rückseite des Spiegels aber entfernte sich der Schäfer.

      „Und dort kommt man hinaus!“ Diederich wies auf einen erleuchteten Spalt, er tastete, die Tapete öffnete sich.

      „Dies ist der Ausgang, wenn man es hinter sich hat“, [pg 331]bemerkte er und ging voraus. Ihm im Rücken sagte Käthchen spöttisch:

      „Ich habe gar nichts hinter mir.“

      Und Guste wehmütig: „Ich auch nicht.“

      Diederich überhörte dies, er stellte fest, daß man sich in einem der kleinen Salons hinter dem Büfett befand. Eilends erreichte er die Spiegelgalerie und verlor sich unauffällig in der Menge, die soeben aus dem Saal quoll. Man war erfüllt von dem tragischen Schicksal der heimlichen Gräfin, die nun also doch den Klavierlehrer geheiratet hatte. Frau Harnisch, Frau Cohn, die Schwiegermutter des Bürgermeisters, alle hatten verweinte Augen; Jadassohn, der, schon abgeschminkt, Lorbeeren einzusammeln kam, ward von den Damen nicht gut aufgenommen. „Sie sind schuld, Herr Assessor, daß es so gekommen ist! Schließlich war sie doch Ihre leibliche Schwester.“ – „Pardon, meine Damen!“ Und Jadassohn verteidigte seinen Standpunkt als legitimer Erbe der gräflichen Besitzungen. Da sagte Meta Harnisch:

      „Aber so herausfordernd brauchten Sie nicht auszusehen.“

      Sofort richteten sich alle Blicke auf seine Ohren; man kicherte; und Jadassohn, der vergeblich krähte, was denn los sei, ward von Diederich unter den Arm genommen. Diederich, das süße Pochen der Rache im Herzen, führte ihn eben dorthin, wo die Regierungspräsidentin unter lebhafter Anerkennung seiner Verdienste um ihr Werk sich vom Major Kunze verabschiedete. Kaum aber daß sie Jadassohn erblickte, drehte sie einfach den Rücken. Jadassohn blieb am Boden haften, Diederich brachte ihn nicht mehr weiter. „Was ist denn?“ fragte er heuchlerisch. „Ach ja, die [pg 332]Präsidentin. Sie haben ihr nicht gefallen. Sie sollen auch nicht Staatsanwalt werden. Man sah Ihre Ohren zu sehr.“

      Was aber Diederich auch erwartet hatte, diese Spottgeburt einer Grimasse hatte er nicht erwartet! Wo war die hochgemute Schneidigkeit, der Jadassohn sein Leben geweiht hatte? „Ich sage es ja“, äußerte er nur, ganz leise; aber man glaubte einen grauenvollen Aufschrei zu hören ... Dann kam er in Bewegung, tanzte am Fleck umher und redete. „Sie können lachen, mein Bester! Sie wissen nicht, was Sie an Ihrem Gesicht haben. Ihr Gesicht, nichts weiter, und in zehn Jahren bin ich Minister.“

      „Na, na“, sagte Diederich. Er setzte hinzu: „Das ganze Gesicht brauchen Sie nicht einmal: bloß die Ohren.“

      „Wollen Sie sie mir verkaufen?“ fragte Jadassohn und sah ihn an, daß Diederich erschrak. „Kann man das?“ fragte er unsicher. Jadassohn ging schon, unter zynischem Lachen, auf Heuteufel zu. „Sie sind doch Spezialist für Ohren, Herr Doktor ...“

      Heuteufel erklärte ihm, daß tatsächlich, wenn auch bisher nur in Paris, Operationen ausgeführt würden, durch die man Ohren auf die Hälfte ihres Umfanges herunterbringe. „Wozu gleich das Ganze weg?“ sagte Heuteufel. „Die Hälfte können Sie ruhig behalten.“ Jadassohn hatte seine Haltung zurück. „Großartiger Witz! Erzähl’ ich bei Gericht. Sie Gauner!“ Und er klopfte Heuteufel auf den Bauch.

      Diederich inzwischen wandte sich seinen Schwestern zu, die, zum Ball umgekleidet, aus der Garderobe kamen. Sie wurden allerseits mit Beifall begrüßt und berichteten von ihren Eindrücken auf der Bühne. „Tee – Kaffee: Gott, war das aufregend!“ sagte Magda. Auch Diederich als Bruder nahm Glückwünsche entgegen. Er schritt zwischen ihnen, Magda hatte sich in ihn eingehängt, [pg 333]Emmis Arm dagegen mußte er gewaltsam festhalten. Sie zischte: „Laß die Komödie“; und er schnob ihr zu, zwischen Lachen und Grüßen: „Du hast zwar bloß die kleine Rolle gehabt, aber sei froh, wenn du überhaupt mal was vorstellst. Sieh Magda an!“ Denn Magda schmiegte sich gefällig an ihn, sie schien bereit, das Glück der einigen Familie so lange spazieren zu führen, als er es irgend wünschte. „Kleine,“ sagte er mit zärtlicher Achtung, „du hast Erfolg gehabt. Aber ich kann dir versichern, ich auch.“ Er gab ihr sogar Schmeicheleien. „Du siehst heute süß aus. Für Kienast bist du fast zu schade.“ Als dann noch die Regierungspräsidentin, schon im Fortgehen, ihnen gnädig zuwinkte, begegneten die Geschwister auf ihrem Weg nur den ergebensten Gesichtern. Der Saal war ausgeräumt; hinter der Palmengruppe ward eine Polonäse angestimmt. Diederich machte seine korrekteste Verbeugung vor Magda und schritt mit ihr zum Tanz, triumphierend, gleich nach dem Major Kunze, der führte. So zogen sie an Guste Daimchen vorüber, die saß. Sie saß neben dem verwachsenen Fräulein Kühnchen und sah ihnen nach, als habe sie Prügel bekommen. Ihr Anblick berührte Diederich fast so unheimlich, wie der des Herrn Lauer in der Vogtei.

      „Die arme Guste!“ sagte Magda. Diederich runzelte die Brauen. „Ja ja, das kommt davon.“

      „Aber eigentlich“ – und Magda blinzelte von unten, „woher kommt es denn?“

      „Das ist gleich, mein Kind, jetzt ist es mal so.“

      „Diedel, du solltest sie nachher doch zum Walzer bitten.“

      „Das darf ich nicht. Man muß wissen, was man sich selbst schuldet.“

      Dann verließ er sogleich den Saal. Soeben holte der [pg 334]junge Sprezius, der jetzt nicht mehr Leutnant, sondern wieder Primaner war, das verwachsene Fräulein Kühnchen von der Wand weg. Er nahm wohl Rücksicht auf ihren Vater. Guste Daimchen blieb sitzen ... Diederich machte einen Gang durch die Seitenzimmer, wo ältere Herren Karten spielten, bekam eine lange Nase von Käthchen Zillich, die er hinter einer Tür mit einem Schauspieler überraschte, und gelangte zum Büfett. Dort saß an einem Tischchen Wolfgang Buck und zeichnete in sein Notizbuch die Mütter, die um den Saal herum warteten.

      „Sehr talentvoll“, sagte Diederich. „Haben Sie auch schon Ihr Fräulein Braut porträtiert?“

      „In der Beziehung interessiert sie mich nicht,“ erwiderte Buck, so phlegmatisch, daß Diederich Zweifel kamen, ob seine Erlebnisse mit Guste im Liebeskabinett ihren Verlobten interessiert haben würden.

      „Mit Ihnen weiß man überhaupt nicht“, sagte er enttäuscht.

      „Mit Ihnen weiß man immer“, sagte Buck. „Damals vor Gericht, während Ihres großen Monologes, hätte ich Sie zeichnen mögen.“

      „Ihr Plädoyer hat mir genügt; es war ein Versuch, wenn auch glücklicherweise ein mißlungener, meine Person und mein Wirken vor der breitesten Öffentlichkeit in Mißkredit zu bringen und verächtlich zu machen!“

      Diederich

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