Die berühmtesten Dramen von Henrik Ibsen. Henrik Ibsen
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Stockmann. Ich habe gesagt, daß ich nicht ein Wort an die kleine engbrüstige, kurzatmige Bande verschwenden mag, die zurückgeblieben ist. Mit ihr hat das pulsierende Leben nichts mehr zu schaffen. Aber ich denke an die Schar der Wenigen und Vereinzelten hier zu Lande, die sich die jungen, keimenden Wahrheiten alle zu eigen gemacht haben. Die Männer stehen sozusagen draußen auf Vorposten, so weit vorgeschoben, daß die kompakte Majorität ihnen noch nicht nachgerückt ist, – und da kämpfen sie für Wahrheiten, die noch zu neugeboren sind in der Welt des Bewußtseins, als daß sie die Mehrheit für sich haben könnten.
Hovstadt. Na, dann ist der Herr Doktor also Revolutionär geworden!
Stockmann. Himmeldonnerwetter ja, das bin ich, Herr Hovstad. Ich gedenke Revolution zu machen gegen die Lüge, daß die Mehrheit im Besitz der Wahrheit ist. Was sind denn das für Wahrheiten, um die sich die Mehrheit gewöhnlich schart. Das sind die Wahrheiten, die so hoch in die Jahre gekommen sind, daß sie auf dem Wege sind, wacklig zu werden. Aber wenn eine Wahrheit so alt geworden ist, so ist sie auch auf dem besten Wege, eine Lüge zu werden, meine Herren.
Gelächter und höhnische Zurufe.
Stockmann. Ja, ja, – ob Ihr mir's nun glaubt oder nicht; aber die Wahrheiten sind durchaus nicht so zählebige Methusalems, wie sich die Leute einreden. Eine normal gebaute Wahrheit lebt – sagen wir – in der Regel siebzehn bis achtzehn, höchstens zwanzig Jahre; selten länger. Aber solche bejahrten Wahrheiten sind immer schauerlich spindeldürr. Und trotzdem macht sich erst dann die Mehrheit mit ihnen bekannt und empfiehlt sie der Gesellschaft als gesunde geistige Nahrung. Aber es steckt kein großer Nährwert in solcher Kost, kann ich Euch versichern; und das muß ich als Arzt wissen. Diese ganzen Majoritätswahrheiten kann man mit Rauchfleisch vom vorigen Jahr vergleichen; sie sind so etwas wie ranzige, verdorbene, neugesalzene Schinken. Und davon kommt dieser ganze moralische Skorbut, der rings in allen Gesellschaftsschichten grassiert.
Aslaksen. Mir scheint, der geschätzte Redner schweift einigermaßen von der Sache ab.
Stadtvogt. Ich muß im wesentlichen der Ansicht des Herrn Präsidenten beitreten.
Stockmann. Du bist wohl nicht recht gescheit, Peter! Ich halte mich ja so streng an die Sache wie möglich. Denn davon will ich ja doch reden, daß die Masse, die Mehrheit, diese verdammte kompakte Majorität, – daß sie es ist, sage ich, die unsere geistigen Lebensquellen vergiftet und den Boden unter unsern Füßen verpestet.
Hovstadt. Und das täte des Volkes große, freisinnige Mehrheit, weil sie besonnen genug ist, den sicheren und anerkannten Wahrheiten zu huldigen?
Stockmann. Ach, mein guter Herr Hovstad, schwätzen Sie doch nicht von sicheren Wahrheiten! Die Wahrheiten, die von der Masse und dem Pöbel anerkannt werden, das sind jene Wahrheiten, die in den Tagen unserer Großväter die Vorpostenkämpfer für sicher hielten. Wir Vorpostenkämpfer von heutzutage, wir anerkennen sie nicht länger; und ich bin der festen Überzeugung, es gibt nur die eine sichere Wahrheit, daß keine Gesellschaft ein gesundes Leben führen kann auf Grund solcher alten, marklosen Wahrheiten.
Hovstadt. Anstatt hier ins Blaue hinein zu reden, wäre es doch nett, wenn man uns mitteilte, was für alte, marklose Wahrheiten das sind, von denen wir leben.
Zustimmung von mehreren Seiten.
Stockmann. Ach, ich könnte einen ganzen Haufen solchen Dreckzeugs herzählen; aber zunächst will ich mich auf eine anerkannte Wahrheit beschränken, die im Grunde eine eklige Lüge ist, von der aber trotzdem Herr Hovstad wie der »Volksbote« und alle Anhänger des »Volksboten« leben.
Hovstadt. Und die wäre –?
Stockmann. Es ist die Lehre, die Ihr von Euren Vätern ererbt habt und nun gedankenlos in die Welt hinausposaunt, – die Lehre, daß die niederen Klassen, der Haufe, die Masse, daß die der Kern des Volkes – daß sie das Volk selbst seien, – daß der gemeine Mann, daß die Unwissenden und Unfertigen innerhalb der Gesellschaft dasselbe Recht haben zu verdammen und anzuerkennen, zu regieren und zu beschließen, wie die kleine Zahl der geistig vornehmen Persönlichkeiten.
Billing. Das habe ich denn doch, Gott verdamm' mich –
Hovstadt gleichzeitig, ruft: Bürger, merkt auf!
Entrüstete Stimmen. Hoho! Wir sind nicht das Volk? Nur die Vornehmen sollen regieren?
Ein Arbeiter. Schmeißt ihn hinaus, den Mann, der solche Reden führt!
Andere. Setzt ihn an die Luft!
Ein Bürger schreit: Ins Horn gestoßen, Evensen!
Dröhnende Horntöne; Pfeifen und rasender Lärm im Saal.
Stockmann, nachdem der Lärm sich ein wenig gelegt hat. Aber so seid doch vernünftig! Wollt Ihr denn nicht ein einziges Mal die Stimme der Wahrheit hören? Ich verlange ja gar nicht, daß Ihr alle gleich auf der Stelle mir beipflichten sollt. Aber ich hätte allerdings erwartet, Herr Hovstad würde nach einiger Überlegung mir recht geben. Denn Herr Hovstad erhebt ja Anspruch darauf, Freidenker zu sein –
Verblüffte, halblaute Fragen. Freidenker, sagt er? Was? Hovstad ist Freidenker?
Hovstadt ruft: Beweise, Herr Doktor Stockmann! Wann hätte ich das je drucken lassen?
Stockmann besinnt sich. Schockschwerenot ja, da haben Sie recht! – den Freimut haben Sie nie gehabt. Na, ich will Sie nicht in die Tinte setzen, Herr Hovstad. Ich selbst bin also der Freidenker. Und jetzt will ich Euch allen aus der Naturwissenschaft beweisen, daß der »Volksbote« Euch schamlos an der Nase herumführt, wenn er Euch vorerzählt, daß Ihr, daß das Volk, daß die Masse und der Pöbel der wahre Kern des Volkes sind. Das ist bloß eine Zeitungsente, seht Ihr. Die große, Masse ist nur der Rohstoff, aus dem man das Volk machen soll.
Brummen, Gelächter und Unruhe im Saal.
Stockmann. Ja, geht es denn nicht so in der ganzen übrigen Welt des Lebendigen zu? Was für ein Unterschied ist nicht zwischen einer kultivierten und einer unkultivierten Tierfamilie? Seht Euch nur einmal ein gemeines Bauernhuhn an. Was für einen Fleischwert hat solch ein verkrüppeltes Hühnervieh? Wahrhaftig keinen großen! Und was für Eier legt es? Eine halbwegs anständige Krähe kann ungefähr ebenso gute Eier legen. Aber nun nehmt einmal ein kultiviertes spanisches oder japanisches Huhn oder nehmt einen vornehmen Fasan oder eine Truthenne; – ja da werdet Ihr den Unterschied sehen! Und dann nenne ich die Hunde, mit denen wir Menschen so erstaunlich nahe verwandt sind. Denkt Euch zunächst einmal einen gewöhnlichen Pöbelhund – ich meine, solch einen ekligen, zottigen, pöbelhaften Köter, der nur die Straßen entlang rennt und die Häuser versaut. Und dann vergleicht den Köter mit einem Pudel, der schon seit mehreren Generationen aus einem vornehmen Hause stammt, wo er feines Futter gekriegt und Gelegenheit gehabt hat, harmonische Stimmen und Musik zu hören. Glaubt Ihr nicht, daß beim Pudel das Gehirn ganz anders entwickelt ist als beim Köter? Ja, verlaßt Euch drauf! Solche kultivierten jungen Pudel sind es, die die Gaukler zu den erstaunlichsten Kunststücken abrichten. So etwas kann ein gemeiner Bauernköter niemals lernen, und wenn er sich auf den Kopf stellt.
Lärm und Ulken rings umher.
Ein Bürger ruft: Nun wollen Sie uns auch noch zu Hunden machen?
Ein zweiter. Wir sind keine Tiere, Herr Doktor!
Stockmann. Und ob wir Tiere sind, mein Lieber! Wir sind alle durch die Bank so gute Tiere, wie man sie sich nur wünschen kann. Doch vornehme Tiere gibt es allerdings nicht viele unter uns. O, es