Rulantica (Bd. 2). Michaela Hanauer
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»Wir zeigen es ihnen«, flüstert er Venn in die aufmerksamen Kelpieohren.
Sie haben durchaus eine Chance, weil niemand sich auch nur annähernd so gut mit seinem Kelpie versteht. Manchmal kommt es Mats so vor, als könne er Venns Gedanken lesen. Und umgekehrt.
Voller Tatendrang schwingt sich Mats auf Venns Rücken. Er spürt, wie sich die Muskeln seines Kelpies straffen.
Die anderen Quellwächter machen sich ebenfalls auf ihren Kelpies für den Start bereit. Höchste Konzentration und Anspannung bei Reitern wie Zuschauern. Alle harren auf Usgurs Signal.
»Fertig – GÅ!«
Schneller als ein Pfeil schießt Venn los. In der Eröffnungsrunde um den Kampfplatz müssen sie unbedingt eine ideale Position erringen. Direkt vor Mats prescht eine Spitzengruppe voran, alles ältere und erfahrene Quellwächter, die an zahllosen Løps teilgenommen haben, unter ihnen Halvor, der Gewinner vom letzten Jahr. Von den Veteranen sollte man sich besser fernhalten, hat Finja Mats eingeschärft.
Slander hält sich nicht daran, er sprengt mit Rugu in die Spitzengruppe. Mats beobachtet, wie einer der Älteren einen Arm ausstreckt. Zu spät, um Slander zu warnen, der Quellwächter reißt Rugus Zaumzeug an sich und zieht so fest, dass das Kelpie vor Schmerz aufschreit, buckelt und Slander abwirft. Mats kann es kaum fassen. Wie unfair! Aber weder Exena noch Usgur schreiten ein. Um zu gewinnen, ist wirklich alles erlaubt!
»Lass uns lieber Abstand halten. Die sollen sich ruhig erst untereinander die Köpfe einschlagen!«, weiht Mats Venn in seinen Plan ein.
Nur widerwillig drosselt Venn sein Tempo. Mats klopft ihm beruhigend auf den Hals. »Geduld, Geduld! Überholen können wir später immer noch!«
Ein flüchtiger Blick zurück: Gerade mal eine Kelpielänge hinter ihnen die nächsten Verfolger. Nicht alle kennt Mats persönlich. Nur den grimmigen Zwart und Ilai, eine der Meisterschülerinnen, kann Mats ausmachen.
»Wir bleiben am besten genau zwischen den beiden Gruppen«, überlegt Mats.
Die Runde um den Kampfplatz überstehen Mats und Venn ohne Zwischenfall. Jetzt geht es über die schmale Wasserstraße zwischen den Wohntürmen entlang zum Stadttor. Die Kelpies der Veteranen navigieren mit ihren Fischschwänzen geschickt auf das Tor zu. Venn gibt sich weiter alle Mühe, Distanz zu halten, sosehr es ihn auch nach vorne drängt, das spürt Mats. Nicht weit hinter ihnen ist ein Reiter aus der Verfolgergruppe ausgebrochen, er nähert sich unaufhaltsam. Das Tor sieht so verflixt eng aus, passen sie da wirklich durch? Ohne abzubremsen? Venn schrappt mit der Flanke am Torbogen entlang, aber sie schaffen es!
Die Steinaugen auf dem Meeresboden führen zum Kelpwald. Plötzlich taucht wie aus dem Nichts eine Wand vor ihnen auf. Aus blanken Eisblöcken errichtet und schier unüberwindbar. Blitzschnell muss Mats entscheiden – links oder rechts, auf welche Seite soll er ausweichen? Oder …? Mats reckt sich in die Höhe und lenkt damit auch Venns Richtung. Obendrüber!
Ewig zieht sich die Eismauer. Venn steigt und steigt. Mats verlagert sein Gewicht, um kein Ballast zu sein. Hoffentlich war das richtig und die Wand stellt sich nicht als Kuppel heraus wie die Stadtmauer rundum die Eisstadt. Die ersten Sonnenstrahlen jenseits der Wasseroberfläche lassen sich bereits erahnen, kurz bevor die Wand endlich endet. Venn streckt die Vorderbeine, gibt einen kräftigen Schub mit dem Fischschwanz und gleitet in hohem Bogen über das Hindernis. Doch an Aufatmen ist nicht zu denken. Auf der anderen Seite empfängt sie Finsternis. Keine Spur mehr von den Sonnenstrahlen, auch nicht von dem normalen Dämmerlicht unter Wasser. Man kann die Hand vor Augen nicht sehen. Wohin jetzt? Sollen sie anhalten oder weiterschwimmen? Mats verliert augenblicklich die Orientierung, er zupft an Venns Mähne. Wo ist oben, wo ist unten?
»Beruhige deinen Atem, ich sehe für uns beide!«
Mats stutzt, während sein Körper auf Venn weiter abwärtsrast. Wer hat da gesprochen? Er hat die Stimme noch nie gehört und sie ist ihm dennoch vertraut. Venn! Das ist Venn! So deutlich hat Mats sein Wasserpferd noch nie verstanden. Er redet in echten Worten mit ihm, oder macht ihn das Renntempo völlig irre? Kann das wahr sein? Aber seine Aufforderung ergibt Sinn und hilft Mats tatsächlich, den Anflug von Panik zu besiegen. Er schmiegt sich an das Wasserpferd und lässt sich von ihm durch die Dunkelheit tragen. Für einen Moment blendet er das Rennen aus. Dann holen ihn Rufe zurück in die Realität des schwarzen Ozeans.
»Hier geht’s lang!«
»Vorsicht, das ist eine Falle!«
»Wer garantiert mir, dass es nicht deine Falle ist?«
Kehliges Lachen. »Das ist meine Falle!«
»Friss meinen Sand!«
»Friss du meinen!«
Mats beißt sich auf die Zunge. Die beiden Quellwächter sind ganz nah. Sie ahnen nicht, dass er es auch über die Mauer geschafft hat, und sehen können sie ihn genauso wenig wie er sie. Eines der anderen Kelpies schnaubt, findet aber keine Beachtung, weil die beiden ihren Streit fortsetzen.
»Das Løp auf diese Weise zu gewinnen, ist selbst für dich unwürdig!«
»Ein ehrlicher Kampf führt immer zu einem würdigen Gewinner!«
Mats vernimmt ein dumpfes Schlaggeräusch, es folgt ein Triumphschrei.
Ein Gegner weniger. Die Teilnehmer schrecken scheinbar nicht davor zurück, einen Freund auszuschalten, und Mats hat noch nicht mal echte Freunde unter den Quellwächtern. Besser, er bleibt weiter leise und unentdeckt.
Genauso abrupt, wie sie aufgetaucht ist, endet die Schwärze. Hektisch blickt Mats sich um, rechnet damit, dem Schläger direkt in die Faust oder in den gezückten Zweizack zu reiten. Sie sind immer noch außerhalb der Eisstadt und erstaunlicherweise auf dem Parcours, wie der von Steinaugen gesäumte Sand unter ihnen verrät. Doch es ist weiterhin niemand zu sehen. Nur zu hören. Ein Schimpfen und Fluchen, das von überall und nirgends durchs Wasser getragen wird. Er treibt Venn an. Auf den wogenden Kelpwald zu, aus dem er Schreie und Jammern hört. Wahrscheinlich stecken einige Reiter hier fest, aber die dichten grünen Blätter geben nichts preis. Während Mats überlegt, außen herum zu reiten, löst sich etwas aus den Tangblättern. Es sind Eisblumen. Wunderschön, aber scharfkantig wie Messerklingen. Sie rotieren um die eigene Achse und halten auf Mats und Venn zu.
»Vorsicht!«, ruft Mats.
Trotzdem erreicht eine ihr Ziel, streift Venn an der Flanke. Das Kelpie schnaubt wütend auf, blaues Blut tropft aus der kleinen, aber tiefen Wunde. Rasch presst Mats seinen Pulloverärmel darauf und hofft, damit irgendwie die Blutung zu stoppen. Gleichzeitig hält er Ausschau nach weiteren Geschossen. Da wirbelt der nächste Schwung durchs Wasser.
»Nach links!«, brüllt Mats und dirigiert Venn in das dichte Pflanzengeflecht des Waldes. Bis hierhin dringen zwar die Geschosse nicht vor, aber sie kommen kaum voran. Immer enger schlingen sich die Tangstängel um Venns Vorderbeine. Kaum hat das Kelpie einen Knoten abgeschüttelt, bilden die Blätter den nächsten. Mit beiden Händen zerrt Mats ebenfalls an den grünen Schlingen. Je mehr er versucht, sie fernzuhalten, desto heftiger schneiden sie ihm in die Handflächen. Hätte er doch besser einen Zweizack mitnehmen sollen wie einige der anderen Quellwächter? Aber das unhandliche Teil stört ihn beim Reiten und er kann sowieso nicht besonders geschickt damit umgehen.