Rulantica (Bd. 2). Michaela Hanauer
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Читать онлайн книгу Rulantica (Bd. 2) - Michaela Hanauer страница 6
»Vorsicht, da bildet sich ein Strudel«, erkennt Mats, aber da ist Venn auch schon ausgewichen. Nur noch wenige Meter!
Hinter sich hört Mats das markerschütternde Geschrei von Halvor, als er mit Venn über die Ziellinie galoppiert – vor sich sieht er das strahlende Gesicht von Finja, die neben Kailani, Exena und Usgur die Reiter erwartet, alle vier sind von ihren Sitzen aufgestanden.
Der Moment ist Zeitraffer und Zeitlupe in einem. Mats’ Puls rast, sein Kopf kommt kaum hinterher.
Erster!
Sie haben wirklich gewonnen! Das Glücksgefühl in Mats’ Bauch ist unbeschreiblich und doch kann er es kaum fassen. Sein sehnlicher Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Gleich werden sie ihn auf den Schultern tragen, ihn feiern, endlich wird er ein richtiger Teil ihrer Gemeinschaft! Mats rutscht von Venns Rücken und umarmt seinen Freund.
»Danke, danke, danke – du bist der Beste!«
Erste vereinzelte Jubelrufe der Zuschauenden, die um den Platz stehen – Finja wirbelt auf und ab und deutet mit breitem Grinsen auf den Kranz aus Eiszapfen und die Eiskrone, die für den Sieger vor Exena auf einem Tisch bereitliegen. Snorri versucht auffällig unauffällig, mit seinen Fangarmen nach den Gegenständen zu angeln. Mats schmunzelt in sich hinein: Typisch für die beiden, es geht ihnen nicht schnell genug, sie würden sich am liebsten die Utensilien schnappen und ihm und Venn persönlich überreichen. Aber das ist selbstverständlich Exenas Aufgabe.
Er blickt zur Anführerin der Quellwächter. Ihre Miene ist wie immer undurchdringlich, auch an so einem Tag kein Hauch von einem Lächeln – die hat sich echt unter Kontrolle! Endlich erhebt sie die Stimme.
»Werte Teilnehmer, werte Gäste und Quellwächter, wieder haben wir ein spannendes Løp erlebt, mit dem wir unseren Retter, den Gott Odin, erfreut hätten, zeigt es doch, dass wir alle Kräfte sammeln, um seinen Auftrag auch weiterhin zu erfüllen und die Quelle zu schützen, die er uns anvertraut hat.«
Zustimmendes Gemurmel von allen Seiten.
Exena fährt fort: »Am Ende war es ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Halvor und Zwart, und ich darf nun mit Freude verkünden, dass wir nach langer Zeit wieder einen Sieger haben, der sich die Ehre zum zweiten Mal hintereinander verdient hat: Tritt vor, Halvor, ich verleihe dir die Eiskrone!«
Für den Bruchteil eines Herzschlags schweigt der gesamte Platz. Es kommt Mats vor, als würden alle ihn mustern, doch dann bricht der Applaus los, sie haben die Hände in die Höhe gestreckt und beklatschen Halvor, begleitet von tiefen Huh-huh-huh-Rufen, wie es bei den Quellwächtern üblich ist.
Halvor tritt vor zur Tribüne, reckt die Faust in die Höhe und macht mit einem Urschrei seiner Freude Luft.
Nur Finja und Snorri, die immer noch hinter Exena auf der Stelle paddeln, sehen genauso verwirrt aus, wie Mats sich fühlt. Instinktiv sucht er Halt bei Venn. Das Kelpie bläst trübsinnige Luftblasen ins Wasser. Wie Mats kaut er an dem Schock. Sind sie etwa unsichtbar und Exena und Usgur haben nicht bemerkt, dass eigentlich er und Venn gewonnen haben? Oder irrt er sich und Halvor und sein Kelpie waren tatsächlich vor ihnen da?
Nein, nein! Mats ist sich ganz sicher, Venn und er waren Erste! Unsicher tappt er ein paar Schritte nach vorne. Soll er es wagen und Exena darauf ansprechen? Oder lieber dem dringenden Bedürfnis nachgeben, sich in der hintersten Ecke der Eisstadt zu verstecken?
»Wieso hat man uns den Sieg gestohlen?« Venn reibt den Kopf an seiner Schulter.
Mats krault ihn tröstend unter der langen Mähne. »Du hast recht, mein Lieber! Darauf schulden sie uns wenigstens eine Antwort!«
Ginge es nur um ihn selbst, würde Mats sich verdrücken. Aber sein tapferes schnelles Kelpie hat es nicht verdient, so behandelt zu werden. Er atmet sich Mut an, klettert die Tribüne hoch und steuert auf Exena zu, was gar nicht so leicht ist, weil viele Meermenschen ebenfalls auf die Tribüne stürmen, um Halvor zu gratulieren. Als er sich endlich durchgeboxt hat, ist Finja bereits in voller Fahrt: »… aber das ist unfair, mein Bruder war viel schneller!«
»Sein Kelpie trägt kein Zaumzeug«, erklärt Exena.
»Das macht doch keinen Unterschied!«
»Das ist sehr wohl ein gewaltiger Unterschied! Er hat sein Kelpie nicht gezähmt. Wir küren den besten Reiter, nicht denjenigen, der sich einfach von seinem Tier tragen lässt! Ich hätte ihn besser gar nicht teilnehmen lassen sollen!«
Mats steht stocksteif. DAS denken sie von ihm!? Dass er sich nur von Venn tragen lässt? Die Erschütterung trifft ihn tief und unerwartet, seine Knie geben nach, immer noch beachtet ihn niemand.
»Aber Mats kann reiten«, verteidigt Finja ihn hitzig weiter. »Er hat eine Verbindung zu Venn wie sonst keiner zu seinem Kelpie. Nicht umsonst kann er ihn sogar ohne Sattel und Zaumzeug lenken!«
»Von Lenken kann da wohl kaum die Rede sein! Ich kann nicht einfach jemanden gewinnen lassen, bloß weil er dein Bruder ist!«
»Aber …!«
»Ende der Diskussion, ich muss zu unserem Sieger!«
Exena lässt Finja stehen, die gibt noch nicht auf, sondern wendet sich an Kailani.
»Mama …«
Seit einiger Zeit nennt Finja sie wieder so. Nachdem Finja aus dem Muschelpalast fort in die Eisstadt gegangen ist, sind sie sich wieder nähergekommen, was Mats für seine Schwester freut, ihm aber gerade verdeutlicht, wie viel mehr Finja hierhergehört als er.
»Mama, du hast doch auch gesehen, dass er vorne lag. Du musst etwas unternehmen!«
»Ach, Finja, Liebes, ich bin nur Gast in der Eisstadt und habe hier nichts zu bestimmen. Wie du weißt, ist es die erste gemeinsame Feierlichkeit nach so vielen Jahren der Feindschaft, und ich kenne die Gepflogenheiten des Rennens zu wenig …«
Sie bemerkt Mats und streicht ihm mitleidig übers Haar. »Das verstehst du, Mats, oder?«
Geistesabwesend nickt Mats, was soll er auch anderes tun? Kailani murmelt eine weitere Entschuldigung und gesellt sich dann rasch zu den Gratulanten rundum Halvor.
»Exena ist so eine Seekuh!« Finja schlingt die Arme um Mats’ Hals. »Für mich hast eindeutig du gewonnen!«
Er schüttelt den Kopf. »Und für alle anderen habe ich nicht einmal teilgenommen …«
»Ach, Mats, lass dich nicht unterkriegen! Du kannst es doch beim nächsten Løp wieder versuchen, und dann gewinnst du so eindeutig, dass sie einfach niemand anderen zum Sieger küren können!«
Ihre eigentlich tröstlich gemeinten Worte treffen Mats wie feine, aber umso schmerzhaftere Nadelstiche. »Habe ich heute nicht eindeutig gewonnen?«
Finja stutzt. »Doch, klar, hast du!«
»Was also sollte im nächsten Jahr anders sein als in diesem?«
Darauf hat Finja auch keine Antwort.
Snorri