Rulantica (Bd. 2). Michaela Hanauer
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Er hat den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als der erste Mauk bereits zum Sturzflug ansetzt. Mats springt zur Seite, trotzdem trifft der spitze Schnabel ihn an der linken Schulter und das krumme Ende des zweiten Schnabels ritzt seine Haut auf.
»A-aa!«, brüllt Mats.
Da spürt er bereits den nächsten Stich im Rücken.
»Mrrk!« Mit einem triumphierenden Schrei trägt sein Gegner einen Fetzen seines Pullis davon.
Mats geht in die Knie und schnappt sich den nächstliegenden Balken, er schwingt ihn über dem Kopf wie einen Propeller. Einen seiner Angreifer erwischt er am Flügel und drängt ihn ab, doch sofort rückt der nächste Mauk auf und stößt in die Tiefe. Mats spürt den Schmerz am Oberschenkel, in seiner Hose klafft ein Loch. Sein Gegenangriff bringt überhaupt nichts, dafür sind es zu viele und ständig drängen mehr Mauks von draußen nach. Er muss sich irgendwie schützen, um nicht als Schweizer Käse mit tausend Löchern zu enden. Hektisch schaut er sich um. Ob er es bis zu der Bank dort drüben schaffen kann?
Mats kugelt sich zusammen und rollt, so schnell er kann, über den Boden. Es kracht und knackt bedenklich unter ihm, ein Flügel streift seinen Arm, ein Schnabel schlägt direkt neben seinem Kopf ein.
»MRRK, MRRRRKKKK, MRRRRRRKKKKKK!«
Wütend, weil sie ihn nicht voll erwischen, aber umso angriffswilliger formieren die Mauks sich neu. Mats nutzt die Gelegenheit und verschanzt sich unter der Bank und nimmt noch ein Holzscheit zur Verteidigung mit. Wirklich sicher ist er hier nicht, aber er bietet weniger Angriffsfläche als vorher, vor allem sind die Mauks zu groß, um zu ihm unter die Bank zu kriechen. Der nächste Mauk fliegt heran, hackt aber lediglich ins Holz. Doch schon lassen sich zwei weitere Riesen direkt über ihm auf der Sitzfläche nieder und fangen an zu picken. Jede Holzfaser, die sie herauszupfen, macht Mats eines bewusst: Er sitzt in der Falle! Denn auch von der unteren schmalen Seite watschelt einer der Vögel heran und krallt durch die Ritze.
Mats muss immer wieder die Füße wegziehen, damit die scharfen Krallen ihm nicht die Sohlen aufschlitzen. An seinem Kopfende ein ähnliches Spiel, ein Mauk äugt abwechselnd durch die Balken, und sobald er Mats sieht, schiebt er den Schnabel in seine Richtung. Von allen Seiten wird Mats bedroht – er krümmt sich so klein zusammen wie möglich und kann den Angreifern doch nicht komplett ausweichen. Hätte er bloß auf Venn gehört und wäre bei Tageslicht aus der Stadt verschwunden! Venn! Der könnte ihn retten. Soll er nach ihm rufen? Besser nicht, Venn würde es nicht schaffen, zu ihm hochzuklettern, und bei dem Versuch womöglich abstürzen. Mats könnte es sich nie verzeihen, den einzigen Freund zu gefährden, den er je hatte.
Andere Auswege sind allerdings nicht in Sicht, im Gegenteil, einem Mauk über ihm gelingt es, ein großes Holzstück aus der Bank zu meißeln, sein Schnabel pickt durch das Loch und zwickt Mats auf Brusthöhe, nicht tief genug, um ihn zu verwunden, aber er erwischt das Band, an dem seine Amuletthälfte hängt.
»Nein, nein, das bekommst du nicht, du Biest«, ruft er verzweifelt und versucht noch, das Band festzuhalten. Zu spät, samt Anhänger baumelt es im Schnabel seines Angreifers.
»Mrrrrr-KKK«, triumphiert der Vogel. Seine Freunde hören für einen Moment sogar auf, Mats weiter zu belagern, um sich die Beute anzusehen. Die Pause reicht lediglich für ein kurzes Durchatmen, seine Lage ist aussichtslos, früher oder später werden sie seinen Schutzwall weggepickt haben und dann gnade ihm Frigg.
»MRK!«
Das aufgeregte Kreischen verstummt wie auf Knopfdruck. Mats späht durch die Ritzen. Alle Mauks scheinen in dieselbe Richtung nach oben zu blicken, doch er kann nicht erkennen, was sie sehen. Das Schlagen von Flügeln kündigt einen weiteren Vogel an, dann biegen sich die Balken über Mats, als der Neuankömmling auf der Bank landet. Eine Klaue, die um einiges ausladender ist als die der anderen Mauks, gräbt sich in das Loch über Mats’ Brust, mehr kann er immer noch nicht sehen. Trotzdem vermutet Mats den Anführer der Mauks über sich, warum sonst sollten sie so ruhig sein. Wenn er recht hat, wird dieser Riesenvogel über sein weiteres Schicksal entscheiden, ihn seiner Meute endgültig zum Fraß vorwerfen oder ihn sich selbst zum Abendessen einverleiben. Einwenden kann er dagegen kaum etwas, sie werden nicht auf ihn hören, aber er muss es wenigstens versuchen.
»Ich wollte euch nichts tun! Auch keines eurer Eier stehlen.«
Was treibt er da? Wie kommt er darauf, mit ihnen reden zu können? Außer Kreischen hat er nichts von ihnen verstanden, warum sollte das umgekehrt anders sein? Die Tatsache, dass er plötzlich mit Venn sprechen kann, muss ihn total verwirrt haben! Mats zieht die Beine enger an den Körper, faltet die Hände über dem Kopf und stellt sich auf die finale Attacke ein. Wie erwartet legen die Mauks wieder los. Mrk hier, Mrk dort und alle hacken auf die Bank über ihm ein.
Finja
Finja fischt mit den Fingern noch ein paar Seespargelstängel aus der großen Kalkschale. Einen davon hält sie hoch und sofort ist Snorri bei ihr.
»Smm!«, schmatzt er und stibitzt sich mit seinen sechs Fangarmen abwechselnd die besten Happen, sobald ein Meermensch seinen Muschelteller unbeaufsichtigt lässt. Soll er! Heute ist ein Festtag, auch für den kleinen Sixtopus! Finja lächelt hinüber zu Kailani und Bror, ihrem Ziehvater, der inzwischen ebenfalls als Gast an der Ehrentafel Platz nehmen durfte. Es ist wunderbar, wieder einmal einen ganzen Tag mit allen zu verbringen! Ein perfekter Odins-Dank-Tag. Na ja, fast perfekt. Bis auf die Sache mit dem verpassten Sieg. Wie konnte Exena ihrem Bruder das antun? Er war eindeutig als Erster im Ziel. Immer, wenn Finja glaubt, einigermaßen mit der Anführerin der Quellwächter klarzukommen, passiert wieder so was Dummes. Sie legt es darauf an, von allen gehasst zu werden! Obwohl – heute hat sie denjenigen zum Sieger gekürt, den die allermeisten in der Eisstadt feiern wollten.
Finja schämt sich, weil sie so denkt, aber Mats ist nicht sonderlich beliebt in der Unterwasserwelt. Also zumindest nicht bei den Jungwächtern, mit denen sie ihre Ausbildung absolvieren. Woran das wohl liegt? Sie kommt doch auch mit den meisten klar. Mit Ilai kann sie sich prima im Zweikampf messen, Xizir und sie geben sich gegenseitig Tipps in Wasser- und Eismagie, und Timur rechnet sie immer noch hoch an, dass er sie damals, kurz bevor sie Rulantica verlassen hat, sogar vor Usgur in Schutz genommen hat. Trotzdem vermisst sie Aquamaris. Manchmal ist ihr die Verantwortung, die auf ihren Schultern lastet, zu groß. Dann wünscht sie sich, einfach wieder Aquina, die Sirene, zu sein, die in den Tag hineinleben durfte. Gleichzeitig ist es ein geniales Gefühl, dass Mama Kailani und sogar Exena ihr zutrauen, eines Tages Rulantica von dem Fluch zu befreien. Zusammen mit Mats – obwohl sich Finja nicht sicher ist, was Exena ihrem Bruder zutraut, erst recht nicht nach dem Rennen heute. Wäre das schön, wenn sie eines Tages völlig frei wären! Sie könnte mit Mats abwechselnd in seiner Stadt und in Aquamaris leben oder die ganze Welt bereisen …
»Jade und Orchid haben sich nach dir erkundigt«, platzt Bror in Finjas Grübelei.
»Wie geht es ihnen?«, erkundigt sich Finja sofort.
»Gut«, sagt Bror. »Jade war neulich sogar besser als Larima beim Skjol.«
Das