Zukunft verpasst?. Thomas Middelhoff
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Zukunft verpasst? - Thomas Middelhoff страница 15
Warum?
1997 wurde der Neue Markt als ein Segment der Deutschen Börse eingerichtet. Zwar sollte er nach dem Verständnis seiner Gründungsväter als Technologiesektor seinem amerikanischen Pendant entsprechen. Aber schon bei der Namensgebung wurde deutlich, was von den Initiatoren gewollt war: Das Branchenkriterium der an der neuen deutschen Technologiebörse zu handelnden Unternehmen sollte möglichst weit ausgelegt werden, um möglichst viele Unternehmen und Anleger anzusprechen.
So redete man im Zusammenhang mit dem Neuen Markt auch gern von Unternehmen der „New Economy“, wobei allerdings diffus blieb, was man unter diesem Begriff zu verstehen hatte. Den Begriff „Technologieunternehmen“ kann man im Zweifel validieren, unter den Terminus „New Economy“ hingegen konnte so ziemlich alles subsumiert werden.
Die Zielsetzungen, die ursprünglich mit dem Neuen Markt verbunden wurden, waren ohne Frage für die Zukunftssicherung unseres Landes genau die richtigen. Als Konsequenz brachte der Neue Markt in seiner Anfangsphase Unternehmen hervor, die bis heute als bedeutende Technologieunternehmen operieren. Zu ihnen zählen T-Online, Software AG, Evotec, Freenet, Medigen, Mobil.com, Singulus, United Internet etc. Diese Entwicklung war ohne Frage ein Verdienst der Initiatoren des Neuen Marktes, und dieser befand sich zunächst auf einem guten Weg.
Die von Conny gegründete ACG, ein Unternehmen, das auf Chipkarten spezialisiert war, hatte ihren IPO im Juni 1999. Der Peak der Marktkapitalisierung lag bei über 2,0 Milliarden Euro und einem Umsatz von 300 Millionen Euro. So wurde die ACG schnell Mitglied im Premiumsegment des Neuen Markts, DMAX 50. Ob Glück, Fortune oder Intention: Conny verkaufte den Großteil seiner Anteile an der ACG im März 2000, nur wenige Tage vor dem Zusammenbruch des Neuen Marktes. Einen Großteil der Erlöse reinvestierte er bis heute weltweit in über 350 Start-ups. Als Conny feststellte, dass „ACG an der Börse fast genauso hoch bewertet wurde wie Porsche“, gab es für ihn nur einen Erklärungsansatz: „Am Neuen Markt läuft etwas fundamental schief.“
Die Erklärung hierfür war eigentlich denkbar einfach: Neben den Technologiefirmen waren am Neuen Markt später mehr und mehr Unternehmen aufgetreten, die dort zwar ein Listing anstrebten, tatsächlich aber keinen wirklichen Technologiebezug hatten. Vielmehr suchten Unternehmen beispielsweise aus der Film- und TV-Branche durch ein Listing am Neuen Markt nach billigen oder zusätzlichen Finanzierungsquellen. Mit dem an der Börse eingesammelten Geld sollte in diesen Fällen eben nicht die Entwicklung neuer digitaler Geschäftsmodelle vorangetrieben, sondern die Finanzierung gesichert werden für die Übernahme von Filmrechten oder anderen Unternehmen. Die EM-TV AG mag hierfür ebenso als Beispiel stehen, wie Edel Music, Senator oder Kinowelt. Der Neue Markt war von Spekulanten, die eigentlich wenig mit digitaler Technologie zu tun hatten, gekapert worden.
So konnte es geschehen, dass beispielsweise auch die Refugium AG, ein Altenheimbetreiber, über Nacht zu einer „Technologiefirma“ wurde. Sie und andere erreichten nicht nur ihr Listing, sondern Höchstbewertungen an der deutschen Technologiebörse „Neuer Markt“.
Während in den USA an der NASDAQ bis heute ein klarer Technologiebezug im Vordergrund steht, der auch beim Filing für einen IPO detailliert nachzuweisen ist, interessierten sich in Deutschland weder die Banken noch die Anwaltskanzleien, weder die Beratungsunternehmen noch die Börsenaufsicht für die einfache Frage, ob wirklich Technologieunternehmen mit einem tragfähigen Geschäftsmodell an die Börse gebracht werden sollten. Von der Bilanzqualität der einzelnen IPO-Kandidaten ganz zu schweigen. Das Börsenfieber hatte jeden gepackt. Wir erinnern uns an eine Zeit, als die Taxifahrer uns nicht nach dem Zielort unserer Reise fragten, sondern danach, in welche der anstehenden Börsengänge sie als Privatpersonen investieren sollten.
Gier macht bekanntlich dumm. Und viele Teilnehmer des Neuen Marktes verhielten sich aus schierer Gier zunehmend kurzsichtig und dumm: die Anleger, die ohne ausreichende Prüfung bereit waren, viel Geld in Euphorie zu investieren; die Deutsche Börse, die ihren Aufgaben der Prüfung und Regulierung nicht ausreichend nachkam, nur um international im Wettbewerb bestehen zu können; die Unternehmen, die glaubten, mit Fiktion statt Fakten problemlos und dauerhaft Geld einsammeln zu können; die Kriminellen, die ihre Bilanzen fälschten und über Presse- und Ad-hoc-Meldungen das Geld der Investoren lockermachten – und dann verzockten. Und last but not least die Politiker, die sich in dem Gefühl sonnten, mit dem Börsenerfolg der vermeintlichen „New Economy“ internationale Anerkennung und Wählerstimmen zu bekommen.
Sie alle – und auch wir – sind mitverantwortlich für das, was dem vorhersehbaren Crash nach dem Höchststand des Nemax am 10. März 2000 folgte. Der Nemax verlor bis zum 9. Oktober 2002 96 Prozent seines Wertes, was einer Summe von ca. 200 Milliarden Euro entspricht. Auf den Wertverlust folgte ein dramatischer Vertrauensverlust. Und aus heutiger Sicht ist dieser für die zukünftige Wettbewerbskraft unseres Landes eine größere Hypothek als die damalige – in ihrer Konsequenz übertriebene – Wertkorrektur.
Die Öffentlichkeit setzte in Unkenntnis der wirklichen Gründe dieses Börsen-Desasters die „New Economy“ mit Technologie und Digitalisierung gleich. Ab sofort waren neue Technologien suspekt. Die Akteure, die vorher den Neuen Markt gepusht und dort in den guten Tagen viel Geld verdient hatten, drehten sich über Nacht um 180 Grad. Technologie wurde verteufelt und mit Spekulantentum gleichgesetzt, und die am Neuen Markt gelisteten seriösen Technologiefirmen bekamen nach dessen Zusammenbruch durch das Treiben einzelner Scharlatane erhebliche Probleme.
In seinem großartigen Buch The Big Short hat Michael Lewis die Ursache für das Platzen einer ähnlichen Blase im Immobilienbereich gut acht Jahre später beschrieben. Fehler und spekulative Ursachen hat er dort klar herausgearbeitet. Als der Subprime-Hype (verbriefte Hypotheken) zu einem Ende kam, standen dramatische Wertverluste fest, die das weltweite Finanzsystem erschütterten. Der Immobilienbereich erfuhr eine radikale Wertkorrektur, aber im Unterschied zum Neuen Markt waren die Investoren bereit, trotzdem weiter in Immobilien zu investieren. Dagegen war der Finanzmarkt in Deutschland über lange Jahre für digitale Geschäftsmodelle nicht mehr existent, und darüber hinaus wurde der Markt für neue Ideen von Start-up-Gründern trockengelegt.
Statt eine fundierte Ursachenanalyse zu betreiben, suchte man die Schuld an diesem Desaster genau bei jenen Personen, die meist gar keine Verantwortung dafür trugen. Die Gründer echter Internet-Unternehmen waren ab diesem Zeitpunkt gesellschaftlich genauso suspekt wie später nach der Lehman-Pleite auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 der gesamte Berufsstand der Investmentbanker.
Stephan Schambach, der Gründer von Intershop, einem Unterneh-men, das Standardlösungen für eCommerce entwickelte, wäre nach unserer festen Überzeugung heute einer der positiven Leuchttürme, die in Deutschland fehlen – hätte ihn nicht die öffentliche Verfolgung von digitalen Unternehmern, die dem Zusammenbruch des Neuen Marktes folgte, gezwungen, in die USA auszuwandern.
Fazit: Der Neue Markt war von seiner Zielsetzung her grundsätzlich sinnvoll. Deutschland war bis zum Crash des Neuen Marktes einer der Pioniere für digitale Geschäftsmodelle. Zumindest in Europa waren wir damals führend. Die Intention war gut, die Ausführung leider schlecht. Es ging viel zu schnell. Die Prozesse hätten besser reguliert werden müssen. Man stelle sich vor, wo Deutschland heute stehen würde, wenn man nicht nach dem Scheitern des Neuen Marktes rundweg alle Technologien verteufelt hätte. Die Entwicklung der Digitalisierung erfuhr dadurch hierzulande einen Setback, der schwerer wiegt als der nominelle Wertverlust des Neuen Marktes nach seinem Crash. In der Bundesrepublik stand man Digitalisierung und Internet-Geschäftsmodellen fortan skeptisch bis ablehnend gegenüber. Und an diesem Punkt begannen wir, den Anschluss zu verlieren. Denn leider erfolgte auch die Aufarbeitung dieses Desasters mit deutscher Gründlichkeit.