Zukunft verpasst?. Thomas Middelhoff
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Dabei wird aber nicht der eigentlich wichtigsten Frage nachgegangen: „Wann werden wir den Spaß an Autos verloren haben?“ Wahrscheinlich ist dies eine Frage, die man im „Autoland“ Deutschland nicht ohne Gefahr für Leib und Leben stellen darf, während sich junge Menschen tatsächlich immer häufiger fragen, ob die Anschaffung eines Autos wirtschaftlich sinnvoll und ökologisch überhaupt noch vertretbar ist.
Im Bereich der Automobilzulieferer besitzen deutsche Unternehmen eine deutlich bessere Positionierung und sind im weltweiten Ranking mit Bosch, Continental und ZF Friedrichshafen auf den Plätzen 1, 2 und 5 vertreten. Allerdings operieren die Zulieferer in der Regel als eine Art verlängerte Werkbank für die Automobilindustrie. Geht es dieser wirtschaftlich schlecht oder verschläft sie eine technologische Entwicklung – wie zum Beispiel den Elektroantrieb –, dann leidet die Zulieferindustrie überproportional. Hat die Automobilindustrie sozusagen Husten, dann liegen die Zulieferer mit Influenza im Bett.
Das Management von Continental hat dies unter Beweis gestellt, als es im Herbst 2019 den Abbau von 28.000 Stellen ankündigte. Man stehe bei Continental zwei verschiedenen Herausforderungen gegenüber: Die Produktion für Teile der Motorenherstellung (Verbrennung) und für herkömmliche Getriebe müsse zurückgefahren und zeitgleich die Fertigung neuer Komponenten (Elektro mit entsprechenden Antriebssträngen) entwickelt und neu aufgebaut werden. Nur zur Verdeutlichung der Tragweite dieser von Continental angekündigten Stellenabbau-Zahl: Sie entspricht der Menge der insgesamt bei Kaufhof und Karstadt beschäftigten Mitarbeiter. Damit wurde zugleich den zarten Entwicklungen zu mehr Digitalisierung und Investitionen in Start-ups ein abruptes Ende bereitet. Und Experten erwarten darüber hinaus eine Flut von Insolvenzen im Bereich der Automobilzulieferer, wenn die ersten Hilfspakete zur Abfederung der Corona-Auswirkungen ausgelaufen sind.
Fazit: Für alle deutschen „Vorzeigeunternehmen“ gilt, dass sie während des verlorenen Jahrzehnts nicht nur Wettbewerbskraft durch falsche Strategien eingebüßt haben, sondern darüber hinaus im internationalen Vergleich zum Teil dramatisch zurückgefallen sind. Während internationale Wettbewerber in diesem Zeitraum auf die Digitalisierung setzten, übten sich deutsche Konzernchefs in der Rolle rückwärts.
Die Konsequenzen dieses „kollektiven Fehlers“ werden bei den deutschen Konzernen im vor uns liegenden Jahrzehnt bis Ende 2030 schmerzlich zu spüren sein. Auch ein kurzfristiges Gegensteuern wird die Auswirkungen nicht mehr korrigieren können. Die Früchte von Programmen, die heute eingeleitet werden, können nach dem Phänomen der Entkoppelung von Ursache und Wirkungen erst in zehn Jahren deutlich sichtbar werden.
BLICK ZURÜCK: WIE DER ZUSAMMENBRUCH DES NEUEN MARKTES EINE GANZE NATION WIEDER ZU DIGITALEN ANFÄNGERN MACHTE
Schon einige Zeit vor unserer gemeinsamen Reise nach China haben wir uns mit folgender Frage beschäftigt: Lässt sich ein Zeitpunkt oder ein Ereignis benennen, das nachhaltig negativ auf die beginnende Entwicklung der Digitalisierung in Deutschland gewirkt hat? Schließlich waren wir von Anfang an Augenzeugen und nahe Beobachter dieser Vorgänge, wenn auch in unterschiedlichen Rollen.
Schnell fanden wir auf diese Frage die einzig logisch erscheinende Antwort: Der „Neue Markt“, sein Aufstieg und sein Zusammenbruch war der Auslöser des verlorenen Jahrzehnts für Deutschland und hatte damit einen nachhaltig negativen Einfluss auf die Fortführung der Digitalisierung hierzulande. Die Gründe hierfür sind überraschend vielfältig. Und es ist aus unserer Sicht sehr lehrreich, sich damit auseinanderzusetzen, um für die Zukunft besser gerüstet zu sein.
Wir waren damals persönlich dabei, als die Gier jegliche Vernunft fortzuspülen begann. Und später, als die Börsen-Party vorbei war, erlebten wir, dass statt ehrlicher Ursachen- und Fehleranalyse der Stab über fast alle digitalen Geschäftsansätze gebrochen wurde. Alles Neue war verdächtig, wohl auch um von eigenem Versagen und eigener Gier abzulenken.
Wir erinnern uns noch sehr genau an den steilen Aufstieg und späteren tiefen Fall des Neuen Marktes. Die maßgeblichen Akteure kennen wir zum Teil persönlich, und wir wissen auch, wer für den nachfolgenden Kehraus verantwortlich ist. Er wurde fast wie ein Glaubenskrieg geführt. Die ehrlichen Befürworter der Digitalisierung, die deren Vorteile für die Wirtschaft und Gesellschaft erkannten, standen den konservativen Bewahrern gegenüber, die technologischen Entwicklungen gegenüber grundsätzlich skeptisch eingestellt sind. Wie so oft in dem Missverständnis, dass in einem Konflikt nur Schwarz und Weiß gesehen werden.
Erinnern wir uns aber zunächst an die frühen Anfänge. Geradezu euphorisiert durch die rasante Entwicklung der US-Technologiebörse NASDAQ wurden in der Bundesrepublik Anfang der 90er-Jahre die Stimmen im Finanzbereich, bei Investoren und in der Wirtschaft immer lauter, die sich dafür einsetzten, auch an der Deutschen Börse ein Wachstumssegment nach dem US-Vorbild einzurichten. Grundsätzlich betrachtet ein hervorragender und richtiger Ansatz, auch aus unserer heutigen Sicht.
1971 gegründet, entwickelte sich die NASDAQ ab Mitte der 90er-Jahre mit beeindruckendem Tempo. Die 1.000-Punkte-Marke wurde am 17. Juli 1995 erreicht, die 2.000-Punkte-Marke am 16. Juli 1998, und am 10. März 2000 beendete die NASDAQ den Handel mit einem Allzeithoch von 5.048,62 Punkten. Das entspricht einer Steigerung seit ihrem Start von 4.948,6 Punkten.
Seit Bestehen der NASDAQ werden dort bis heute die Aktien „echter“ Technologiefirmen eingeführt und gehandelt, unter anderem Microsoft, Amazon, Apple, Facebook oder Google. Am 12. Juni 2020 sind schon zwei dieser fünf Firmen zusammen in ihrer Börsenkapitalisierung größer als der gesamte deutsche Prime Index DAX, MDAX und TecDax zusammen, und Amazon allein ist mehr wert als der gesamte DAX. Zudem sind chinesische und amerikanische Firmen heute deutlich stärker kapitalisiert als deutsche. Nichts verdeutlicht Deutschlands Dilemma mehr als diese Zahlen.
Abbildung 7: Marktkapitalisierung der führenden amerikanischen Technologiekonzerne im Vergleich mit dem DAX.
Neben der New York Stock Exchange (NYSE) wurde die NASDAQ zum führenden Börsenplatz in den USA, an dem heute über 3.000 Unternehmen gelistet sind, überwiegend solche, die dem Technologiesektor zuzurechnen sind.
Die starken Kursgewinne an der NASDAQ eröffneten nicht nur für Anleger attraktive Gewinnchancen, sondern zogen international zunehmend Kapital in Richtung des Finanzplatzes New York ab. Das konnte aus deutscher Sicht nicht im Interesse des Börsenplatzes Frankfurt sein. Die Forderung, einen eigenen Technologiesektor an der Börse nach US-amerikanischem Vorbild einzuführen, als Versuch, eine weitere Kapitalabwanderung zu verhindern (verbunden mit dem damaligen Umstand, dass deutsche Unternehmensgründer anders als in den USA kein ausreichendes Startkapital fanden), wurde ab Mitte der 1990er-Jahre auch von der Politik aufgegriffen und fand sogar den Weg in die Wahlprogramme der Volksparteien.
Euphorie breitete sich aus und erfasste auch uns. Dem Unternehmergeist von Gründern, die bisher oftmals für ihre risikobehafteten Projekte keine Finanzierung erhalten hatten, stand das Interesse der Anleger gegenüber, Technologiewerte zu finden, die hohe Renditen versprachen. Sie suchten