Deutsche Geschichte. Ricarda Huch
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Der Charakter des Gottesreiches sollte sich nicht nur durch den Schutz der Kirche, sondern durch die vom König ausfließende Gerechtigkeit erweisen. Die Sage erzählt, dass in Zürich, in einem dem Münster gegenüberliegenden Hause, wo der Kaiser zu wohnen pflegte, eine Glocke angebracht war, damit jeder Rechtsuchende sich bei Karl melden könne. Eines Tages läutete dort eine Schlange, um gegen eine Kröte zu klagen, die sich auf ihre Eier gesetzt habe. Sie beschenkte den Kaiser, der ihr zu ihrem Rechte verhalf, aus Dankbarkeit mit einem wunderkräftigen Stein, dessen er sich oft bediente. So verdeutlichte sich das Volk die Gerechtigkeitsliebe seines großen Königs, der auch den Geringsten in seinem Recht schützte. Im Umfassenden seines Geistes zeigte sich sein Genie. Kein Gebiet war ihm fremd, keins vernachlässigte er; er förderte die Baukunst, die Dichtkunst, die Musik, die Schule, die Landwirtschaft, er war groß als Gesetzgeber, als Verwalter, als Richter, als Gutsherr, im Kriege. Nichts war ihm zu klein, nichts zu fernab. Als die nie fehlende Unterlage großer Genialität besaß er eine unerschöpfliche Tätigkeit. Er war immer erfüllt von großen Gedanken, immer mit ihrer Ausführung beschäftigt, immer voll Teilnahme an nahen und fernen, großen und kleinen Ereignissen. »Lasst uns heute etwas Denkwürdiges unternehmen«, so lässt ihn die Überlieferung täglich sprechen, »damit man uns nicht tadele, weil wir den Tag müßig verbracht haben.«
Seine zeitgenössischen Verehrer haben uns Karls Äußeres geschildert: die kräftige, hochgewachsene Gestalt, den festen Gang, die männliche Haltung, die großen, leuchtenden Augen. Seine Stimme war hell und nicht stark, er sprach gern und viel und war immer fröhlich, wie er denn auch Frohsinn um sich her liebte. Immer durch die Interessen seines riesigen Reiches bewegt, lebte er doch voll ungeteilter Hingabe mit seiner Familie und seinen Freunden. Jeder Frau, die er liebte, jedem seiner Kinder, jedem seiner Freunde gehörte sein Herz ganz. Jahrelang lebte er in glücklicher Ehe mit der Schwäbin Hildegard, die allgemein verehrt wurde, und die ihm drei Söhne und drei Töchter gebar. Seine Kinder liebte er so sehr, dass er sie immer, selbst auf Reisen, um sich haben wollte, und wie der maßlose König des deutschen Märchens ließ er seine Töchter nicht heiraten. Doch gönnte er den schönen und leidenschaftlichen Mädchen ein beglückendes Liebesleben und hielt ihre Kinder wie rechtmäßige Enkel. Nach dem Tode der Hildegard heiratete er Fastrada aus ostfränkischem Stamme, deren ungünstigem Einfluss es zugeschrieben wurde, dass er ein einziges Mal bei Gelegenheit einer Verschwörung zu übertriebener Härte sich hinreißen ließ. Für seinen übermäßigen, für die Regierung verhängnisvollen Schmerz bei ihrem Tode entdeckte man, so erzählt die Sage, eine magische Ursache in einem Ring, den sie am Finger trug. Der Erzbischof Turpin zog ihn der Toten ab, und die Neigung des Königs ging auf ihn über, bis der geistliche Herr den Talisman in einen Teich bei Aachen versenkte. Seitdem pflegte der Kaiser, in Trauer und Traum versunken, stundenlang an diesem Teich zu sitzen; das bezauberte Gewässer, zum Teil verschüttet, befindet sich am Rande der Stadt in der Nähe der Frankenburg, einem düsteren, efeuumrankten Gebäude, das die Stelle der alten Königsburg bezeichnen soll.
Keines anderen germanischen Helden Bild ist so farbenbunt, so vielseitig prächtig von der Sage aufgefangen. Immer erscheint er in ihr von Freunden und Gefährten umgeben, immer freundlich, furchtlos, überlegen, großmütig, aber auch zuweilen streng und vernichtend. Notker der Stammler, der nach Karls Tode aus mündlicher Überlieferung von ihm erzählt, nennt ihn nicht nur den weisen, den milden, den siegreichen, sondern auch den schrecklichen, den furchtbaren Karl, aber das eine ebenso bewundernd wie das andere. Nicht ohne Ströme von Blut zu vergießen hat er sein Reich gegründet. Die Sachsen aber, die am meisten durch ihn gelitten hatten, trugen es ihm nicht nach; auch für sie war er der Urquell alles Guten und Großen im Reich, das Urbild eines germanischen Heldenkaisers.
Die Deutschen und das Christentum
Man möchte gern wissen, was von Staat und Kirche geschah, um die Sachsen zu bekehren, wie die Bekehrung wirkte, was für ein Christentum es war, das gelehrt und das aufgenommen wurde. Ein schöner Brief des Angelsachsen Alkuin an Kaiser Karl gibt zu verstehen, dass die Bekehrer hauptsächlich fordernd auftraten, indem sie den Zehnten zur Erhaltung der Kirche auferlegten, der, wie es scheint, mit Härte eingetrieben wurde. Es sei besser, meinte Alkuin, den Zehnten als den Glauben zu verlieren, es sei auch nicht erwiesen, ob die Apostel gewollt hätten, dass der Zehnte gegeben werde. Wären die Neugetauften später reif im Glauben geworden, möge man ihnen ein so schweres Gebot zumuten, zunächst solle man sie die Heilswahrheiten lehren und ihnen mit Werken der Barmherzigkeit näherzukommen suchen. Ohne Zweifel hatte Alkuin gehört, wie die Sachsen sich beklagten, dass die Religion des Gottes der Liebe für sie nur Bedrückung bedeute; wusste er, dass für die Predigt nicht genügend gesorgt war. An den Erzbischof Arn von Salzburg schrieb er, der Kaiser habe den besten Willen, aber er habe nicht genug Leute, die von der Liebe zur Gerechtigkeit beseelt wären, es gäbe eben mehr Diebe als Prediger, und mehr Menschen suchten das Ihre als das Göttliche.
Überall und zu allen Zeiten sind von den Menschen, die ein Gesetz ausführen sollen, viele, ja die meisten voller Mängel und Schwächen, sodass der Wille des Gesetzgebers selten rein zur Geltung kommt. Dasselbe ungünstige Verhältnis von Guten, Minderguten und Schlechten besteht natürlich in allen Schichten des Volkes und bestand bei den zu Bekehrenden wie bei den Siegern. Der Art der Bekehrung entsprach die Gesinnung, mit welcher die Taufe empfangen wurde, wie die folgende Anekdote erzählt. Als einmal um Ostern fünfzig Heiden zugleich sich zur Taufe meldeten, waren am Hofe des Kaisers nicht so viele leinene Gewänder vorrätig, mit denen man die Täuflinge zu beschenken pflegte, und die fehlenden wurden schnell aus grobem Stoff zusammengenäht. Entrüstet sagte der eine der Heiden, als man ihm einen solchen Kittel reichte: »Zwanzigmal schon habe ich mich hier gebadet und immer habe ich gutes neues Gewand bekommen; dieser Sack passt höchstens für einen Sauhirten, nicht für einen Krieger. Wenn ich mich nicht meiner Nacktheit schämte, könntet ihr das Kleid mitsamt dem Chrisam behalten.«
Seit ihren Anfängen hatte die Kirche eine wesentliche Veränderung erfahren: als der Glaube des herrschenden Volkes gehörte sie nicht mehr in erster Linie den Armen und Sklaven, sondern den Großen. Bei allen germanischen Stämmen wurden die Könige und Herzöge zuerst Christen, und ihnen schloss sich der Adel an; was sie zum Übertritt bewog,