Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland. Группа авторов

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zu Dorf.

      Bei den Sprachen existiert eine gewisse Hierarchie: Friesisch/Jütisch → Niederdeutsch → Hochdeutsch. Dies bedeutet, dass Sprecher des Friesischen und/oder des Jütischen oft auch Kenntnisse des Niederdeutschen und auf jeden Fall des Hochdeutschen haben. Verhältnismäßig wenige Niederdeutschsprecher verfügen über Kenntnisse des Friesischen und/oder des Jütischen, sprechen aber alle Hochdeutsch. Nicht alle Hochdeutschsprecher sprechen Niederdeutsch, und noch weniger können Friesisch und/oder Jütisch. Dänischkenntnisse (Rigsdansk) haben Mitglieder der dänischen Minderheit, die verstreut über das ganze Gebiet leben, sowie Personen, die in Verbindung zur Minderheit stehen, ohne selbst Mitglieder zu sein. Sprachkenntnisse entstehen auch auf Grund eines wirtschaftlichen Interesses, etwa im Handel und Fremdenverkehr, oder durch Kontakt zu Dänemark zum Beispiel durch Verwandtschaft, Freunde oder wirtschaftliche Verbindungen.

      Die indviduelle Sprachkompetenz reicht von hochdeutscher Einsprachigkeit bis hin zur Fünfsprachigkeit mit Hochdeutsch, Niederdeutsch, Friesisch, Dänisch und Jütisch. Bei der individuellen Mehrsprachigkeit sind verschiedene Konfigurationen möglich. Infolge eines Umzuges oder familienbedingt – zum Beispiel Mutter Inselfriesin, Vater Festlandfriese – beherrschen Friesen manchmal zwei friesische Mundarten.1 Durch die engen Beziehungen zu den USA verfügen viele Föhrer und Amrumer außerdem über gute Englischkenntnisse. Die gestiegene Mobilität, insbesondere der jüngeren Generation, führt ebenfalls zunehmend zur Verbreitung von Englischkenntnissen.

      Der Gebrauch der Sprachen hängt von verschiedenen Faktoren ab (Walker 2009). In der Regel weiß jede Person in Nordfriesland, welche Sprache sie mit jeder anderen ihr bekannten Person sprechen kann. Dies ist der primäre Faktor bei der Sprachwahl im Gespräch. In der Domäne „Laden“ hängt zum Beispiel die zu verwendende Sprache von der üblichen zwischen Verkäufer und Kunde benutzten Sprachvarietät ab, nicht von der Domäne an sich. Wer üblicherweise miteinander Friesisch spricht, tut es auch hier. Das Thema kann allerdings die Sprachwahl beeinflussen. Bei einem Gespräch zum Beispiel in der Bank kann das informelle Gespräch auf Friesisch oder Niederdeutsch erfolgen, wenn es aber um eine finanzielle Transaktion geht, kann dies zu einem Code-Wechsel, nämlich zum Hochdeutschen führen. Dies kann damit zusammenhängen, dass der in hochdeutscher Sprache ausgebildete Bankangestellte ein formelles Gespräch mit Fachvokabeln nur auf Hochdeutsch führen kann oder will. Dieser Gedanke kann wiederum durch einen weiteren Faktor, das Sprachbewusstsein, außer Kraft gesetzt werden. Der sprachbewusste Kunde könnte darauf bestehen, das Gespräch auf Friesisch oder Niederdeutsch fortzusetzen, allerdings unter Verwendung vieler Ad-hoc-Entlehnungen.

      In einem weiteren Beispiel kann die Sprache im Zwiegespräch ebenfalls gemäß dem Thema wechseln. Der Sprechende kann sich nach der Sprache der Person richten, über die gerade gesprochen wird. Im auf Friesisch geführten Gespräch wechselt er ins Niederdeutsche, wenn er von den niederdeutschsprechenden Nachbarn erzählt. Auf Hochdeutsch geht es weiter, wenn über die Politiker in Kiel gesprochen wird, auf Dänisch, wenn der dänische Schulverein Gegenstand des Gesprächs ist. Das setzt natürlich voraus, dass der Gesprächspartner ebenfalls Kenntnisse in diesen Sprachen besitzt.

      Im Gespräch in geselliger Runde kann die Sprachwahl ständig wechseln. Ein Sprechender richtet sich nach seinem momentanen Gesprächspartner. Wenn er gerade jemandem in die Augen schaut, mit dem er normalerweise Friesisch spricht, wird diese Sprache auch benutzt. Wenn er aber dann einer anderen Person in die Augen schaut, mit der er Niederdeutsch spricht, ist ein sofortiger Code-Wechsel zum Niederdeutschen hin nicht unüblich.

      8.3 Sprache in der Statistik

      Die Tradition der sprachstatistischen Erhebungen reicht in Nordfriesland bis ins 19. Jahrhundert zurück (Walker 2016). Die Erhebungen können großflächige Areale umfassen oder sich nur mit einem Dorf befassen. Unterschiedlich ist auch die Motivation für die Erhebungen: Sie kann zum Beispiel politischer (der Siegeszug des Deutschen über das Dänische), sprachpflegerischer (wo Friesischunterricht sinnvoll wäre), wissenschaftlicher (Verteilung der Sprachen in einem bestimmten Gebiet), oder pädagogischer Natur sein (Einführung von Friesischstudenten in die praktische Spracharbeit).

      Im Laufe der Zeit hat sich der thematische Umfang vergrößert. Während es anfangs nur um die Feststellung der Verteilung von Sprachkenntnissen ging, kamen später auch Fragen zum Gebrauch der Sprachen und zu Attitüden gegenüber den Sprachen hinzu. Auch die untersuchte Zielgruppe hat sich im Laufe der Zeit geändert. Am Anfang galt das Interesse der/den Sprache(n) der Familie oder des Haushaltes,1 später stand das Individuum, auch das Kind, mehr im Mittelpunkt.

      Die Erhebungsmethoden weisen auch Unterschiede auf. Die Befragungen wurden mit einer direkten oder indirekten Fragebogenaktion durch den Explorator selbst, durch Ortskundige, Lehrer, Studenten, Schüler oder Wissenschaftler durchgeführt. Die Ergebnisse wurden tabellarisch, manchmal auch kartographisch dargestellt und dokumentieren die Verbreitung und Entwicklung der gesellschaftlichen sowie der individuellen Mehrsprachigkeit. Der Sprachgebrauch in der Familie und Haushaltung scheint eher einsprachig zu sein, während das Individuum meist mehrsprachig ist. Allerdings ist ein zunehmender Verlust von Sprachkenntnissen in den Regional- und Minderheitensprachen erkennbar.

      Die Überlegung, zusammen mit der letzten Volkszählung auch eine Spracherhebung im Kreis Nordfriesland durchzuführen, wurde von friesischer Seite mit dem Argument abgewiesen, dass man lieber an einen bestimmten Sprachstand glauben als die Wahrheit wissen wolle (Steensen 1996).

      8.4 Sprache in der Familie

      Um die Sprachverhältnisse und Sprachentwicklungen in der Familie genauer zu eruieren, läuft ein Projekt zu Sprecherbiographien (Walker 2017c). Als Grundthese wird angenommen, dass Spracherwerb und Sprachgebrauch von Generation zu Generation und von Ort zu Ort variieren. Untersucht wird zunächst der Erwerb in den Lebensabschnitten a) vor der institutionellen Bildung, b) in der institutionellen Bildung, c) in der Ausbildung und d) im Beruf, wobei eine weitere Binnendifferenzierung möglich ist. Ein möglicher, aber noch nicht eingeführter Abschnitt wäre das Rentenalter. Ein Beispiel: Ein Mann wurde 1942 auf Sylt geboren, wo die Familie Hochdeutsch sprach. Als er vier Jahre alt war, zog die Familie aufs Festland, wo sie bei der friesischsprachigen Urgroßmutter wohnte. Nebenan wohnten die friesischsprachigen Großeltern. Die Familiensprache wechselte zu Friesisch. Auf der Straße lernte der Knabe Niederdeutsch. Mit sechs Jahren ging er auf die dänische Schule, wo er Dänisch und Englisch lernte. Im Beruf lernte er später Jütisch.

      In der Untersuchung spiegelt sich zunächst der starke gesellschaftliche Wandel wider. Während zum Beispiel die Groß- und Urgroßelterngeneration zur Volksschule im Dorf gingen, besuchen die Kinder heute häufig eine große, zentral gelegene Schule. Während die älteren Generationen wenig mobil waren, ist die Mobilität ein Zeichen der modernen Zeit usw.

      Auf Grund des gesellschaftlichen Wandels befinden sich die Spracherwerbsprozesse ebenfalls im Wandel. Allgemein gilt, dass die Großeltern- und Urgroßelterngenerationen zu einem großen Teil in friesischer und/oder niederdeutscher Sprache sozialisiert wurden. Hochdeutsch hat man erst in der Schule gelernt. Die heutige Kindergeneration wird weitgehend hochdeutsch sozialisiert. Gewisse Kenntnisse des Friesischen oder des Niederdeutschen werden, wenn überhaupt, oft erst im Kindergarten oder in der Schule erworben.

      In diesem Zusammenhang wird auch der Frage nachgegangen, welche Sprache mit den unterschiedlichen Familienmitgliedern gesprochen wird, etwa Eltern, Großeltern, Kindern, Enkelkindern, Tante, Onkel, Kusinen, Mann/Frau, Schwiegereltern, -sohn oder -tochter. Die Gründe für die jeweilige Sprachwahl werden analysiert. Es lässt sich beobachten, dass die dem Erwerb sowie dem Gebrauch der jeweiligen Sprachen zugrunde liegenden Faktoren komplex sein können. Ein Beispiel: Ingeborg wurde 1941 auf Amrum geboren. Sie sprach Hochdeutsch mit ihrer vom Festland stammenden Mutter, da die Hebamme bei der Geburt mit ihr Hochdeutsch gesprochen hatte. Als der Vater später aus dem Krieg kam, hat er auch mit ihr Hochdeutsch gesprochen, da sich dies als Eltern-Kind-Sprache

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