Heimat?. Группа авторов

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       Heimat. Ein Traum

       von Dorle Gelbhaar

      Sie träumte von ihrer Heimat. Es war ein Ort der Geborgenheit. Jemand schmiegte sich an sie und wärmte sie. Draußen rauschte das Meer. Trat sie zur Tür hinaus, atmete sie die würzig klare Luft des Nordens. Ein Winter ließ die Ostsee zufrieren. Eisschollen lagen am Strand. Man verließ das Ufer, stieg von einem zum anderen Eisbrocken. Eisige Luft schmerzte. Das bis weit zur Tiefe des Binnenmeers zugefrorene große Wasser ließ Länder erahnen, fern, nicht in Kilometern gemessen, doch einem anderen Universum zugehörig. Sie blieb an ihrem, dem ihr zugewiesenen Strand. Eine Gestrandete von Geburt.

      Wie melodramatisch. Sie fühlte sich wohl an diesem Platz. Des Sommers rieselte der Sand sonnenwarm sauber und Ferien verheißend zwischen ihren Fingern und Zehen hindurch. In der Schulzeit verlangten die zwölf zu überwindenden Kilometer bis zum Strand zu viel an Zeit. Kein Auto. Nicht aus ökologischen Gründen. Ein Auto war Luxus. Brauchte sie den? Sie fuhr mit der Eisenbahn, wenn Sommerferien waren. Mit neun Jahren saß sie einmal hinter dem Steuer des zeitweilig von ihrem Vater genutzten Dienstwagens. Stolz drehte sie Runden auf dem Parkplatz. Können war besser als Haben. Später hatte sie, aber konnte nicht. Ihr Programm wirkte unglaubhaft. Vielleicht, weil es eher ein angelesenes denn ein erarbeitetes war? Vorgegeben statt aus einer Fülle von Angeboten gewählt?

      In ihrer Familie war man nicht besitzgierig. „Habe ich so lange keinen Aal gehabt, brauche ich ihn jetzt auch nicht“, sagte ihre Großmutter, als sie das erste Mal dorthin fuhr, wo die Märkte überbordeten.

      Sie holte tief Luft, als sie in die U-Bahn stieg.

      Das untergründige Gefährt trug sie in Gefilde der Kindheit, sie sog den Geruch ein, der fest an den ledernen Polstern haftete.

      Die fremde, große, die geteilte, ihr Teil Großstadt, die Hauptstadt ihres Landes verband sich damit. Für sie war das die weite Welt. Gewesen. Als Studentin lief sie die Straßen entlang und diese endeten abrupt.

      Es war anders als das Sein am Meer. Wer wollte das durchschwimmen.

      Daran dachte sie jetzt nicht. Sie hatte ein Ziel. Das tägliche Einerlei. Von A nach B. Wie immer werktags.

      Draußen war es neblig, als sie die Treppe hochstieg. Sie erkannte die Gegend nicht. War das ihre Stadt? Wo war was?

      Weder war sie zu A zurückgekehrt noch bei B angekommen.

      Etwas anderes gab es nicht. Hatte es nicht gegeben.

      Sie riss sich los aus den grau verhangenen Traumgespinsten, eilte hastig B entgegen.

      Auf Arbeit erzählte sie von der irrealen Reise der Nacht.

      „Das muss ein schöner Traum gewesen sein“, sagte eine.

      „Nein“, erwiderte sie der älteren Kollegin.

      „Es war alles fremd. Ich kannte mich nicht aus.“

      Bald überquerte sie ihre Grenze.

      Sie blieb, wo sie Jahre und Jahre wohnte, in derselben Stadt, derselben Straße, demselben Haus, auf derselben Etage in derselben Wohnung, und war doch in ein anderes Land hineingelangt.

      Das Fremde wurde zum Eigenen.

      Es war immer da gewesen.

      Die Anreise hatte mehrere Stunden gedauert. Zum Glück war das Wetter gut und sie hatten Pausen eingelegt. In Cham zuletzt. Wie sich das ausspreche, hatte sie eine Kellnerin gefragt. „Kamm. Manche sagen auch ‚Tschamm‘“, hatte die geantwortet.

      Das Spiel mit dem Dialekt. Nicht mit einer fremden Sprache. Nicht Ausland. Bundesland. Ein südlicher gelegenes. Der Süden war nicht ihre Herzensangelegenheit. Am mallorquinischen Hafen von Andracz plagte sie die schlechte Laune. Himmelsbläue und Sonnenschein. Sie war unweit eines Meeres zur Welt gekommen, jedoch nicht an südlich sonnigem Gestade vor azurblauem Meer.

      Sie drehte sich vom Beifahrersitz herunter, stieß die Autotür auf und stakste dem Wirtshaus entgegen, das sie eine Gesundheitswoche lang beherbergen würde.

      Bayrischer Wald also. Zum Glück kein Hochgebirge. Moderate Berglandschaft. Nicht erdrückend erschreckend in seiner Gewaltigkeit. Einfach Wald. Schön geschwungene Landschaft.

      „Mit dem Basischen, das sehen wir hier nicht so eng. Also, wenn Sie etwas anderes möchten, können Sie das auch ankreuzen.“

      Der Mann an ihrer Seite ging sofort darauf ein, erwies sich als richtiger Kerl, der angenommen wurde, wie er war, und ein Ansehen genoss. Sie wollte das Basische. Das vermittelte ihr gewiss nicht dieses plötzliche Gefühl von Angekommen-Sein.

      Natürlich, sie war angekommen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

      Den Plan – Nordic Walking, Massage, Fußbäder, Vollbäder, Sole, Heu, energetisiertes Wasser – in der Hand, öffnete sie die Tür ihres Hotelzimmers. Es war geräumig, hatte einen Balkon mit Holzfußboden und ein Mobiliar, wie es in den achtziger Jahren einmal modern gewesen sein mochte, indessen mittlerweile nicht nur hinsichtlich der modischen Ausrichtung gelitten hatte. Sie rief einen Freund an. Immer sonntags telefonierte sie mit ihm. Davon ging sie möglichst auch auf Reisen nicht ab. Das Menschenleben brauchte Struktur und Gewohnheit.

      „Du bist so ruhig. Im Urlaub angekommen. Entspannt.“

      Tatsächlich. Ungeheuer ruhig und entspannt war sie.

      Im Bayrischen Wald überkam sie ein heimeliges Gefühl. Sie fühlte sich regelrecht zu Hause. Das Gefühl blieb. Trotz des baumlosen Friedhofs und der schwülstigen Gemälde im schönen weißen Barockbau der Kirche.

      Der Dialekt schien ihr nicht fremd, das Zusammenleben und die Art, sich den Lebensunterhalt zusammenzustoppeln, vertraut, das war sie als Freiberuflerin gewohnt.

      Am Ende kannte sie auch die dörflichen Konflikte ebenso wie die der Wirtsfamilie. Im Ort hatte man sich alles geschaffen, was man hier brauchte: Apotheke, Arzt- und Zahnarztpraxis, Physiotherapie, Kosmetik, Frisör, Feuerwehr, Schule, Rathaus, Freiluftmuseum, ausgewiesene Wanderwege durch den Wald, Brunnen mit Trinkwasser vor Kreuz und Marienbild. Mitten im Wald unter von Naturkräften übereinandergeschobenen, -geschichteten, -gestülpten Riesensteinen eine Höhle, an deren einer Wand ein Kreuz befestigt wurde, davor und drum herum allerlei Mitbringsel, ein bisschen unordentlich, aber ganz eigene Dinge, umgekippte Lichter, ein Stein mit der Aufschrift „Ich vermisse dich“.

      „Die Leute brauchen ihren eigenen Ort. Wie sie den gestaltet haben“, meinte die Wanderleiterin bewundernd. Eine der zwei Wirtstöchter war das, Gastronomin, einen Hof mit Pferden und Hirschen hatte sie in der Nähe des väterlichen Gasthauses. Abends sah man sie am Computer (über den Bilanzen?) brüten. Sie werde anschließend noch zu ihrem Hof fahren, Pferde und Hirsche füttern.

      Ihre schwere Art zu sprechen, ihr Nachdenken.

      „Die arbeiten wollen, lässt man nicht.“ Sie sprach von einem Ägypter, der von seiner deutschen Frau verlassen worden wäre, sein Kind nicht sehen dürfe und nur eine Duldung, keine Arbeitserlaubnis hätte.

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