Die Residentur. Iva Prochazkova
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Aus einer Sonderbeilage von Česká Ekonomika
Helga Apoštolová, Vorsitzende der Bewegung DIE STIMME, schaltete den Rechner aus und erhob ihre fünfundsiebzig Kilo aus dem Bürostuhl. Sie sah sich in einer Fensterscheibe und ließ den Blick erfreut auf sich ruhen. Ihr Gewicht war auf eine überdurchschnittliche Körpergröße verteilt, dadurch wirkte sie insgesamt nicht korpulent, sondern opulent. Sie sah aus wie eine edle Vollblut-Rennstute.
„Was machst du denn hier?“, fragte sie ihren Stellvertreter Viktor Duba, der gerade zur Tür hereinkam. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. „Hast du etwa vor, heute hier zu schlafen?“
„Da fragt die Richtige“, konterte er ihre Ironie. „Du Workaholikerin.“
Sie hatten einander nichts vorzuwerfen. Beide waren sie von ihrer Arbeit besessen, nur jeder anders. Helga glich mit dem hohen Arbeitspensum ihr ruhiges, harmonisches Familienleben aus, das ihr keine wirklichen Herausforderungen zu bieten hatte. Rennstuten brauchten aber Herausforderungen, das lag in ihrem Charakter. Helga liebte ihren Mann, unterstützte die erwachsene Tochter und hütete aufopferungsvoll die Enkeltochter, aber ihr Elan hätte gereicht, sich um ein Dutzend solcher Familien zu kümmern, bloß war das schlecht hinzukriegen – ihr blieb also nichts anderes übrig, als bei der Arbeit Höchstleistungen abzuliefern. Analog dazu agierte auch Viktor in Übereinstimmung mit seinem Naturell. Von seinem aschkenasischen Vater hatte er nicht nur die dunklen Locken geerbt, sondern auch die Ansicht, dass ein Jude am besten in einem Café aufgehoben war. Obwohl sein Jüdischsein nicht matrilinear war und er nach der Halacha nicht zum auserwählten Kaffeehausvolk gehörte, machte ihn nichts glücklicher, als an einem x-beliebigen Ort, wo es gesprächige Menschen gab, bei einem Espresso zu sitzen, ihnen zuzuhören und alles im Gedächtnis zu vermerken. Die gesammelten Informationen waren für ihn Kapital, Prestige und Arbeitsmittel gleichermaßen. Er benutzte sie mal mit Noblesse, mal mit rücksichtsloser Direktheit, immer aber objektiv, wie es ihm der ethische Kodex als Journalist gebot. Dass er von seinem eigentlichen Beruf in letzter Zeit auf Politik umgesattelt hatte, hatte seine Prinzipien nicht verändert, nur ihre Reihenfolge. Zweckgerichtete Rücksichtslosigkeit hatte jetzt Vorrang.
„Ich war auf ’ner Party“, berichtete er. „Dort ist nicht nur hervorragender Wein in Strömen geflossen, sondern ich hab auch eine außerordentlich wertvolle Information aufgetan.“
„Ist das nicht ein Widerspruch? Die Ströme von Wein und die wertvolle Information?“
„In vino veritas.“
„Um was geht’s denn?“
„Um eine mögliche Diskreditierung der Tschechisch-Mährischen Demokraten.“
„Erzähl.“
Helga schenkte Viktor einen Blick voller Erwartung und Respekt. Er war zehn Jahre jünger als sie, aber sie wusste ganz genau, was für ein Juwel sie an ihm hatte. Seit er zum Vizevorsitzenden gewählt worden war, hatte sich DIE STIMME aus dem politischen Bodensatz freigestrampelt und ein Steigflug hatte eingesetzt. Nach außen hin gab es dafür keinen anderen Grund als die systematische Arbeit und die Energie, die Helga Apoštolová als Vorsitzende investierte. In Wirklichkeit stand hinter dem Aufstieg der Bewegung Viktor Duba. Drei unschätzbare Vorzüge zeichneten ihn aus: Er hatte keine Ambitionen auf die Führungsrolle, er war fähig, die Erfolge von DIE STIMME und auch die Fehlgriffe der Konkurrenz medial in Szene zu setzen, und er konnte genau die Punkte aufspüren, die den Nerv der kommenden Generation trafen. Er formulierte sie in klaren Schlagworten: Freiheit und Diversität, Recht auf Individualität, Umweltschutz. Er ließ eine große Meinungsumfrage unter Achtzehn- bis Dreißigjährigen durchführen, aus der hervorging: 85 Prozent der jungen Menschen wollten anderen helfen und die Welt zum Besseren verändern, aber ohne die alten Rezepte. Sie waren besessen von ihren eigenen Erfahrungen. Die Welt, in der sie aufgewachsen waren, sahen sie nicht mehr vom Říp aus, diesem Hügel mitten im böhmischen Kessel, von dem herab einst der sagenhafte Urvater Čech sein künftiges Land gesehen und für gut befunden hatte. Der Horizont der jungen Generation war weit, und Naivität lag ihr fern.
Beim Ausformulieren des politischen Programms hatte Viktor alle rein männlich konnotierten Elemente vermieden. Er wusste, warum, denn er stimmte dem Satz von Lenin zu: „Wenn wir für die Politik nicht die Frauen gewinnen können, gewinnen wir für sie auch nicht die Massen“, und ohne den Fehler zu begehen, den Bolschewikenführer zu zitieren, skizzierte er neben dem Profil des modernen selbstbewussten Mannes auch das Bild der selbstbewussten, intelligenten, wirtschaftlich erfolgreichen Frau. Er hatte es bis in so begehrenswerte Details ausgearbeitet, dass sich die Tschechinnen – zumindest diejenigen, die begehrenswert erscheinen wollten – damit identifizierten. DIE STIMME gab ihnen den Mut zur Selbstverwirklichung, bahnte neue Wege, und an der Spitze lief eine edle Stute, die es wert war, dass man sie bewunderte und ihr folgte. Viktor ließ Helga die Führungsrolle, aber hinter ihrem Rücken hatte er bei all dem die Zügel fest in der Hand. Er gab die Richtung vor, hatte jedoch nicht das Bedürfnis, sich zu zeigen.
„Wie stehen wir momentan da?“, fragte er und setzte sich auf eine Ecke ihres Schreibtischs. Ein anderes Thema als den Wahlkampf zum Europaparlament hatte es in den letzten Wochen für sie nicht gegeben.
„Bei Factum liegen wir knapp hinter den Tschechisch-Mährischen Demokraten. Unser großer Trumpf ist Zora Opasková, denen ihrer ist Štěpán Chytil. Die Leute schätzen an ihm, dass er unabhängig ist.“
„Das kann aber auch sein Schwachpunkt sein. Wenn irgendwas über ihn ans Licht kommen sollte, wäscht sich die ČMD die Hände in Unschuld und serviert ihn ratzfatz ab. Einen neuen Kandidaten zu profilieren, schaffen sie nicht mehr, und wir können Vorteile draus ziehen.“
„Was soll denn über ihn ans Licht kommen?“, fragte Helga skeptisch. „Das ist ein langweiliger Spießer. Er hat eine Frau geheiratet, von der bekannt ist, dass ihre erste Ehe unglücklich war, er hat sie unterstützt, als sie kollabiert ist, er ist ein anerkannter Ökonom, stellt sich weder in der Boulevardpresse noch bei Instagram zur Schau, und soweit ich weiß, hat er seinen Posten beim Amt für Ein- und Ausfuhrkontrolle auf dem üblichen Dienstweg erreicht. Wo siehst du da Raum für irgendwelche unsauberen Geschichten?“
„Er war nur ein Jahr bei der Fahne“, sagte Viktor. „Statt zwei, wie’s damals eigentlich Pflicht war.“
„Alle, die studiert haben, waren nur ein Jahr bei der Armee. Schon vergessen?“
„Aber Chytil hat seinen Wehrdienst abgerissen, bevor er sein Wirtschaftsstudium angefangen hat. Und das war eher unüblich. Willst du wissen warum?“ Sein Blick deutete an, dass sie es wissen wollen sollte.
„Warum?“, fragte sie.
„Er hatte schon ein Studium hinter sich. Anfang der Achtziger hat er am MGIMO studiert.“
„Am Moskauer Institut für internationale Beziehungen?“
„1987 hat er dort seinen Abschluss gemacht. Damit geht er nirgendwo hausieren.“
„Er geht nirgendwo damit hausieren, aber du hast das ‚rein zufällig‘ auf der Party erfahren“, sagte sie schnippisch. „Wer hat’s dir gesagt?“
„Ach,