Die Illusion der Unbesiegbarkeit. Paul Williams
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»Wir brauchen keine Vision – pünktliche Lieferung reicht völlig!«
Wer in großen Unternehmen arbeitet, kommt früher oder später an Workshops zu »Visionen«, »Leitbildern« oder »Missionen« nicht vorbei. Dabei verschwimmen die Begriffe vielfach und es passieren sonderbare Dinge. Für uns ist eine echte »Vision« eine ambitionierte, aber realistische Zielprojektion, die geeignet ist, Mitarbeiter wie auch andere Stakeholder zu begeistern. (Okay, Steve Jobs’ »Delle« scheint nicht realistisch, aber die nehmen wir metaphorisch.)
Wenn es brennt, lieber erst das Feuer löschen
Wie man Visionen eindeutig nicht kreieren und installieren sollte, erlebte Andreas Krebs in einer internationalen Sitzung bei einem Global Player im Life-Science-Bereich. Der Hintergrund: In einigen Ländern gab es massive Lieferschwierigkeiten bei einem Schlüsselprodukt, weil bestimmte Rohstoffe nicht rechtzeitig geliefert wurden. Es drohten also erhebliche Umsatzeinbrüche. Mitten in der hitzigen Diskussion der international vom Vorstand und den wichtigsten Länderchefs besetzten Runde wurde vom CEO der 45-minütige Programmpunkt »Technical Operating Vision« (Vision des Zentralbereiches Produktion) angekündigt. Nach einem Imagefilm mit pathetischen Zukunftsparolen (»We want to be the best« usw.) begann eine Mitarbeiterin mit einer umfangreichen PowerPoint-Präsentation. Schon bei Folie 3 platzte dem Landeschef aus Frankreich der Kragen: »Hey guys, we don’t need to be the best, just normal supply would be fine!« Großes Gelächter – und eine düpierte Visionsbeauftragte.
An einer Vision zu arbeiten, während das Unternehmen mitten in einer Krise steckt, ist ungefähr so, als würde ein Kapitän bei Windstärke 12 die Mannschaft zusammentrommeln, um die Schönheit eines Ziels zu beschwören, das man möglicherweise niemals erreichen wird. Wie kommt es zu solchen Absurditäten? Aus der Beobachtung heraus, dass erfolgreiche Unternehmen oftmals über eine zündende Vision ihrer Zukunft und ihres Beitrags zur Welt verfügen, wird ein falscher Umkehrschluss gezogen: Erst die Vision, der Rest ergibt sich! Doch überzeugende Visionen sind keine Retortenprodukte, die man mal eben zusammenbastelt. »Visionen lassen sich nicht machen, man muss sie sich entwickeln lassen. Dieser Prozess darf nie enden«, sagt Knut Bleicher, Wirtschaftswissenschaftler und früherer Leiter der Business School St. Gallen.4
Hat Bezos wirklich – wie auf der Amazon-Website behauptet5 – vom ersten Tag an auf die Weltherrschaft in Sachen Kundenorientierung abgezielt? Hat Bill Gates schon beim Studienabbruch in Harvard davon geträumt, jedermann einen PC auf den Tisch zu stellen? Oder wuchsen solche Visionen erst mit den ersten Erfolgen? Wie viel Marketing, wie viel bewusste Legendenbildung steckt in solchen Selbstdarstellungen? Wir wissen es nicht. Sicher ist: Damit Visionen wirklich begeistern und motivieren, müssen sie sowohl emotional berührend als auch glaubwürdig sein. Sie müssen im Unternehmen gelebt werden, in seiner DNA stecken, sonst lösen sie nur Zynismus aus. Würde die Deutsche Bahn heute verkünden, ab sofort den globalen Siegerpokal in Sachen Kundenfreundlichkeit anzustreben, wäre das kein strategischer Coup, sondern vermutlich ein PR-Gau. Idealerweise destilliert eine Vision also die Essenz dessen heraus, wofür ein Unternehmen steht, und übersetzt dies in ein ambitioniertes, emotional berührendes (Fern-) Ziel. Mitarbeiter werden sich nur in einer Vision wiederfinden, die ihren Alltag zwar in ehrgeiziger Weise transzendiert, aber doch noch Anknüpfungspunkte im alltäglichen Handeln und Erleben hat. Selbst die Incas konnten sich bei ihrer »Ordnungsvision« nicht nur auf göttliche Weisung berufen, sondern auf bestehende Erfolge, die ihre Vision für Nachbarvölker glaubwürdig machten.
Ziele, Strategien und Werte lassen sich also nicht, wie oft behauptet, kausal aus einer Vision ableiten. Eher hat man es mit einer Spiralbewegung zu tun, in der Normen / Werte / Spielregeln, Alltagspraxis, konkrete Businessziele und übergeordnete Vision ineinandergreifen (vgl. Abb. 3). Wenn Mercedes-Benz die Parole »Das Beste oder nichts« ausgibt, bündelt das Unternehmen damit ein Qualitätsverständnis und einen unternehmerischen Stolz, der vielen Mitarbeitern in Fleisch und Blut übergegangen ist. Nicht ohne Grund erzählt man in Schwaben bis heute gern, dass man »beim Daimler schafft«. Dass Mercedes-Benz damit gleichzeitig an die Vision des Unternehmensgründers anknüpft und dies sogar in einem Werbespot verarbeitete,6 spricht für ein im Unternehmen fest verankertes Langzeitziel, das geeignet ist, Mitarbeiter zur Identifikation einzuladen. Im Gottlieb-Daimler-Museum in Daimlers ehemaligem Gartenhaus ist der Spruch in die Decke gemeißelt.7 Derart in der DNA des Unternehmens verankerte Visionen sind dann tatsächlich geeignet, die Reihen zu schließen, Sinn zu stiften und über schwierige Zeiten hinwegzutragen. Doch wie gelangt man zu einer Unternehmensvision, wenn man sich nicht auf ein legendäres Zitat des Unternehmensgründers berufen kann? Auch dazu im nächsten Abschnitt eine Geschichte aus der Businesswelt.
Abb. 3: Überzeugende Visionen sind in der Praxis geerdet.
Von Adlern, die durch Zirkuszelte fliegen
Wenn Visionen die Menschen berühren sollen, kann man sie ihnen also nicht vorschreiben, etwa nach dem Motto: »Ab 01.09.20XX gilt Vision XYZ!« Dass das nicht funktioniert, ist psychologisch nachvollziehbar. Vielfach setzen Unternehmen dann auf das alte pädagogische Prinzip, Betroffene zu Beteiligten zu machen, und grundsätzlich ist es auch gut, viele Mitarbeiter einzubeziehen, um eine Vision in der Organisation zu verankern. In vielen Firmen allerdings wird die größtmögliche Kaskade von Meetings und Workshops quer durch alle Ebenen angestoßen. Was dabei herauskommt, ist häufig der kleinste gemeinsame Nenner: tut niemandem weh, reißt aber auch niemanden vom Hocker. Doch es geht noch schlimmer …
Die absurde Scheinwelt mancher Workshops
Ein Konzern hatte sich die Vision verordnet, in 15 Jahren zu den Top Ten seiner Branche zu gehören. Neben den klassischen Workshops zu Fernzielen und strategischen Themen gab es auch Visions-Workshops, um sich selbst und seine Arbeitseinheit (Abteilung, Region, Land) im Rahmen der Vision 2020 neu zu definieren. Einer der Urväter der Vision auf Seiten des begleitenden Consultingunternehmens legte dabei viel Wert auf eine metaphorische Einstiegsübung als »Ice-Breaker«. Kein Workshop ohne diesen besonderen Moment, in dem jeder Teilnehmer aufschreiben sollte, wie er sich selbst definiert. Dabei wurden der Kreativität keine Grenzen gesetzt: Analogien zur Welt außerhalb des Unternehmens oder auch zur Tierwelt waren ausdrücklich erwünscht.
Die Leute schrieben also auf Kärtchen, wie sie sich oder ihren Bereich sehen. Die meistgehandelten Begriffe waren Metaphern wie Zirkusdirektor, Hofnarr, Meerjungfrau, Wahrsagerin, Bienenkönigin (umgeben von unnützen Drohnen), Kondor, großer Adler, kleiner Adler, großer Tanker, kleines Schnellboot, Elefant im Porzellanladen, Rattenfänger von Hameln, General, kleiner Soldat (der nichts machen kann), Innenminister, Außenminister usw.
Spätestens bei dem Hinweis auf Drohnen oder Porzellanläden hätte man stutzig werden können, doch Sie kennen das vielleicht: Bei solchen Übungen betritt man eine ironiefreie Zone.
Anschließend wurden Begriffe in Gruppenarbeit »geclustert«, mit Klebepunkten bewertet und so lange kondensiert, bis am Ende ein Gesamtbild entstand, mit dem